Doktor Schiwago

(Doctor Schiwago, USA 1965, 185 Minuten, Regie: David Lean, Musik: Maurice Jarre, Drehbuch: Robert Bolt, nach dem gleichnamigen Roman von Boris Pasternak)

Der junge Arzt Schiwago gerät in Moskau in die Wirren der russischen Revolution und lernt die Brutalität des Lebens kennen, die konträr zu seiner menschenfreundlichen Haltung und zu seiner Art, mit dem Leben fertigzuwerden, steht. Denn er ist kein Gesellschaftsveränderer, er deutet das Leben in seinen Gedichten. Schon als kleiner Junge hat er die Mutter verloren, seinen Vater hat er kaum gekannt, weil der die Familie früh verlassen hatte. Der jungverheiratete Arzt flieht mit seiner Familie aus dem unfriedlichen Moskau und bemüht sich, jenseits des Urals im Abseits wie ein Bauer zu leben. Er verliebt sich in die Hilfskrankenschwester Lara, die er schon vorher bei einem Fronteinsatz kennengelernt hatte. Lara ist mit einem führenden Revolutionär verheiratet, aber nicht mit ihm zusammen. Doktor Schiwago wird durch die Kriegsereignisse zunächst von seiner Familie, dann auch von seiner Geliebten Lara getrennt.

In dem 1957 in Mailand in italienischer Sprache erstveröffentlichten umfangreichen Roman zeichnet Boris Pasternak (1890 – 1960) mit Doktor Schiwago einen Menschen, der nicht nur quer zu seiner Zeit und Umwelt liegt, sondern auch immer ein wenig darüber hinausragt. Der Roman ist das Epos des gewaltigen Leidens – Erster Weltkrieg, Revolution, Bürgerkrieg – eines gewaltigen Landes und der stillen Überlegenheit des ehrlich-bemühten Menschen und kreativen Künstlers Schiwago, der den Untergang der bürgerlichen Welt erlebt und akzeptiert, dabei sich aber seine innere Freiheit erhält.

Hollywood hat daraus einen gewaltigen Film mit gewaltigen Verwicklungen in gewalttätiger Zeit gemacht, bei dem nur noch der Zufall der Überlegene ist. Menschen begegnen sich, verlieren sich aus den Augen und treffen wieder aufeinander, und das sogar noch mehr als in dem Roman. Das Prinzip des Konsumparadieses: Taste it again and again. Und als Zuschauer glaubt man nur allzugern an die Macht des Zufalls, weil er einem schöne Gefühle bereitet. Dazu die eindrucksvollen Landschaftsbilder mit den ständig wechselnden Jahreszeiten – sehr viel fallendes Laub und sehr viel Schnee und Eis – und die immer wieder neu anbrandende Musik – ein einziger Sahnetortengenuß.

Einige Fehler hätte man vermeiden können. So der übertrieben kitschige Hinweis mit dem Funken der Trambahn, der überspringt, als Doktor Schiwago und Lara sich das erste Mal begegnen. Und in der deutschen Synchronisation mogelt sich der moderne Tourismusbegriff Kreuzfahrer ein, wo Kreuzzügler gemeint sind. Zudem haben gute Schauspieler andere mimische Möglichkeiten als nur immer die Nüstern zu blähen. Und die Quintessenz des Romans, das banale Sterben des Protagonisten auf dem Moskauer Asphalt, war für die Filmleute nicht hinnehmbar. Es mußte durch ein scheinbares Wiedersehen der geliebten Lara dramatisiert und versüßt werden. – kleine Schönheitsfehler.

Offen bleibt die Frage, warum Hollywood dem Ganzen noch eine Rahmenhandlung, die nichts bringt, übergestülpt hat, mit einer pauperistischen Tochter des Doktor Schiwago und einem unnahbar wirkenden, aber sehr menschenfreundlichen Halbbruder im Range eines Generals. Warum überhaupt sind sämtliche Figuren des Films gute Menschen oder zumindest gutmeinende? Das schmeckt nach Bauerntheater. Denn so ganz und gar gut ist doch kein Mensch, ist nicht einmal der Dynamithersteller Alfred Nobel gewesen, dessen Preis für Literatur Boris Pasternak zwei Jahre vor seinem Tode zugesprochen wurde, den er sich aber nicht abholen durfte, weil es ihm die nicht guten sowjetischen Machthaber verwehrten. Sind die Menschen bis auf den politischen Führer der roten Partisanen, eine Randfigur, sämtlich Gutmenschen, damit wir uns den Film auch noch ein fünftes oder sechstes Mal anschauen?
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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