Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe

Der Dieter-Kühn-Code

(Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe – Roman eines Mordes, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, gebunden 263 Seiten, 18.90 €)

Ein Buch für Liebhaber des nervenstrapazierenden Agentenmilieus, gleichzeitig aber ein Stück Literatur. Wenn ein Autor wie Dieter Kühn, wohlbekannt von seinen großen Biographien „Ich, Wolkenstein“ und „Frau Merian“ und zahlreichen weiteren eigenartig kunstvoll erzählenden Werken, also ein Schriftsteller, der nicht das gängige Lesefutter produziert, sich gedrängt fühlt, dem banalen Krimigelüst des Publikums und der Verlage entgegenzukommen, dann darf man erwarten, dass mehr dabei herauskommt als der 1001. Krimi des Jahres.

Vorgeführt wird wieder eine wenig bekannte historische Figur, nämlich der englische Dramatiker Christopher Marlowe, 1564 in Canterbury geboren und schon 1593 in Deptford bei London zu Tode gekommen. Dieter Kühn hält sich an die historisch belegten Fakten. Marlowe, der bedeutendste Dramatiker Englands neben William Shakespeare, wird als Wüstling und Geheimagent der britischen Krone geschildert, mit seiner Begeisterung für Knaben, Alkohol und die großen Königsgestalten der Vergangenheit wie mit seiner Hemmungslosigkeit, die ihn schon zum Totschläger gemacht hatte. Das war der Ansatzpunkt für die Herren des britischen Geheimdienstes. So konnte der Dichter zur Mitarbeit erpresst und als Agent nach Paris geschickt werden. Wo er schon bald vom französischen Geheimdienst entdeckt und mit Gewalt umgedreht wurde. Seine phantasievollen, aber doch zu krampfhaften Versuche, sich als Doppelagent durchzuschmuggeln, überforderten den Dramatiker. Und sein Leben wurde zur Tragödie.

Dieter Kühn dankt in einer kurzen Vorbemerkung einem erfahrenen Geheimdienstler für die Hilfe bei der Arbeit an diesem Buch. So ist es nicht verwunderlich, dass dem Leser viele reizvolle Einblicke in die Arbeit von Geheimdiensten geboten werden. Dies auf eine ungewöhnliche Art. Denn auch für diesen Agentenroman hat der Autor sich wieder eine besondere Darstellungsform einfallen lassen. Alles, was in den üblichen Agentenromanen oder Krimis in weitschweifig erzählter Aktion und ebenso referiertem Dialog versteckt ist und nur allmählich verraten wird, das sieht der Leser hier als Insider des Geheimdienstes. Denn Kühn erzählt die Geschichte seiner Romanfigur nicht, er läßt sie in lauter Berichten von Geheimdienstlern deutlich werden. Er blättert nur Faszikel auf. Um die simplen Schergen zu zeichnen, greift er dabei oft auf Ausdrücke der heutigen deutschen Umgangssprache zurück. Ein literarischer Kunstgriff, der erlaubt sein muß, weil er leichter verständlich ist, als es Relikte aus einem veralteten Englisch wären. Nur einige wenige Male meldet der Autor selbst sich in kurzen Texten zu Wort, quasi als notwendige Erläuterung aus der Feder des Mannes, der die Berichte in der richtigen Reihenfolge zusammenstellt.

So wird der Leser durch den Dschungel von Niederschriften, Vermutungen, Verhörprotokollen, Kassibern, dienstlichen Beurteilungen und Arbeitsanweisungen geführt. Er lernt ein paar Codierungssysteme kennen, schüttelt den Kopf über die wechselseitigen Beschuldigungen, mit denen man sich reinwaschen will, freut sich über die Rivalitäten der verschiedenen Dienste, und schmunzelt, wenn von einer Abmahnung des Agenten die Rede ist, weil sexuelle Abenteuer als Gefahr für die Geheimhaltung nicht geduldet werden können. Zwar droht dem Übeltäter danach nicht die Entlassung, da zeigt sich der Unterschied zum normalen Arbeitsleben, aber er wird gezwungen, den Malus des sexuellen Seitensprungs durch den Bonus einer besonders überzeugenden Aktion für den Geheimdienst auszugleichen. Der Agent führt ein Leben in absoluter Rechtlosigkeit, weil ein Beschuldigter in diesem Milieu keine Mittel findet gegen perfide Unterstellungen und den Zwang zu Handlungen, die ihm widerstreben. Der Leser fühlt die Daumenschrauben und hat den Eindruck, selbst zwischen die schweren Mühlsteine geraten zu sein, weil es immer wieder recht brutal zugeht.

Soweit die Agentenroman-Normalität. Doch gelingt es Dieter Kühn, seiner Hauptfigur ein literarisches Denkmal zu setzen. Schon dadurch, dass er ihm den Decknamen Leander gibt und damit auf das von Marlowe verfaßte amüsante kleine Epos „Hero und Leander“ anspielt. Und aus Jeremy, dem witzigen Geheimdienstler, der darauf spezialisiert ist, für jeden Agenten eine glaubhafte Legende zu erfinden, macht er einen Beinahe-Literaten. Dieser Legendenverfasser ist dann auch der einzige, der am Ende zu bedenken gibt, man werde mit der geplanten Liquidierung Marlowes die britische Literatur schädigen. Wie Marlowe dann in einer großen Schlußapotheose mit einem faszinierend wortreich präsentierten Dramen-Exposé seinen Kopf aus der Schlinge zieht, das beweist die Überlegenheit der Literatur übers Leben. Wenn da nicht ein Fiesling die Entscheidung der Chefetage eigenmächtig unterlaufen würde.

Dieter Kühn ist ein Autor von heute, und er schreibt für Leute von heute. Also muß man davon ausgehen, dass er über das Heute schreibt, weil er sich als ein Türöffner für die Flucht aus der Gegenwart zu schade ist. Vielleicht verrät er ja auf Seite 29 den Code dieses Buches, wenn er über Marlowe sagt: Er “hat gleichsam an den Ereignissen entlanggeschrieben, oder, anders formuliert: er hat mit ständigem Seitenblick auf das aktuelle Geschehen geschrieben.“ Tatsächlich macht dieses Buch den Eindruck, als mache Kühn den Autoren der ehemaligen DDR den Markt streitig, die seit eh und je und heute immer noch die unmöglichen Verhältnisse in diesem unmöglichen Staat namens DDR als ihre Goldmine nutzen. Kühn zeigt: So kann auch ein westdeutscher Autor auf packende Weise staatliches Untergrund-Handeln entlarven, wenn er an Ereignissen des 16. Jahrhunderts entlangschreibt.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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