Die Regenschirme von Cherbourg

(Les Parapluies de Cherbourg, F/D 1964, 91 Minuten, Drehbuch und Regie: Jacques Demy, Musik: Michel Legrand)

Der Inhalt des Films wird hier nur kurz skizziert, weil er so wenig ungewöhnlich ist, wie nur möglich. Er ist schon eher typisierend. Vor allem das Belehrende fällt auf: Junge Menschen, die ihre erste Liebe erleben, glauben, dass sie den Verlust des anderen nicht überleben, und ahnen nicht, dass auch für sie gilt: Die Zeit heilt Wunden.

Zeitraum 1958 – 1963: Die Inhaberin eines Regenschirmgeschäfts in der Küstenstadt Cherbourg ist in Geldnot, und ihre Tochter ist verliebt in einen jungen Automechaniker, von dem sie sich schwängern lässt. Dabei hält ein reicher junger Diamantenhändler um die Hand des Mädchens an. Der junge Mechaniker muss zwei Jahre zum Militär nach Algerien. Danach beerbt er seine alte Tante, die von einem schüchternen jungen Mädchen gepflegt wurde. Der Schirmladen wird geschlossen, die Inhaberin stirbt, und die vier jungen Leute kommen so zusammen, wie es für alle Beteiligten das Beste ist. Das zeigt sich in der abschließenden Weihnachtsszene mit viel Schnee, als die beiden ehemals Verliebten sich zufällig noch einmal begegnen, jetzt abgekühlt.

Also nichts Neues, nichts Aufregendes, offenbar ging es bei diesem Film um etwas anderes als um den Inhalt. Wenn ein Filmemacher das Gesamtkunstwerk schaffen will, wie ein Richard Wagner es sich zur Aufgabe gemacht hatte, dann entsteht etwas völlig Neues, das natürlich kontroverse Reaktionen hervorruft. Begeisterung und Schmähung sind die beiden Töchter des Muts. Der französische Filmregisseur Jacques Demy hatte den Mut. Krass negativ war das Urteil über seinen Film „Die Regenschirme von Cherbourg“ beispielsweise in der 1965 erschienenen „Geschichte des modernen Films“ von Ulrich Gregor und Enno Patalas: Süßlicher Kitsch. Ein Urteil von derselben Qualität und Ausgewogenheit wie das Urteil mancher Zeitgenossen über Wagners Musik: Entsetzlicher Lärm.

Jacques Demy (1931-1990) war ein Außenseiter unter den Außenseitern, die in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts den Begriff der Neuen Welle des Films zu einem Markenzeichen gemacht haben: Nouvelle Vague. Genau wie seinen berühmteren Kollegen Francois Truffaut, Jean-Luc Godard und Claude Chabrol ging es Jacques Demy darum, sich von der totalen Festlegung durch das Drehbuch mit all seinen Regieanweisungen zu befreien. Der von den Vertretern der Nouvelle Vague geforderte Film sollte ein Regisseurfilm sein, das heißt ein Film, der dem Regisseur die Freiheit gibt, noch bei den Aufnahmen Änderungen vorzunehmen, die seinen Visionen eines perfekten Films entsprechen. Dazu gehörte auch die Arbeit mit Handkameras, und zwar an Originalschauplätzen und mit natürlichem Licht. Modernere Erzählstile und Schnitttechnik gehörten ebenfalls dazu, zudem das filmische Zitat, daneben auch ein ganz anderer Einsatz von Musik, die mehr Aufgaben haben sollte, als nur unterstützendes – und oft nervendes – Geräusch zu sein.

Aber nicht nur gegen die Fesseln des Drehbuchs wandten sich die Regisseure der Neuen Welle. Sie lösten auch den Starfilm, der vor allem in Hollywood auf die Spitze getrieben worden war, durch den Regisseurfilm ab, einfach indem sie mit unbekannten Schauspielern arbeiteten. Natürlich war manches, was als neue Welle glorifiziert wurde, schon aus Kostengründen nötig. Studios und große Beleuchtungsorgien sowie Stars waren zu teuer für filmische Experimente. Und um solche handelte es sich. Aber anders als mit diesem betonten Discount-Stil war den Hollywood-Produktionen mit ihren gigantischen Etats nicht Paroli zu bieten.

Unter dem Gesichtspunkt Experiment muss man auch den Film „Die Regenschirme von Cherbourg“ sehen. Schon die Eröffnungseinstellungen mit der raffinierten Choreographie von Schirmen in der Draufsicht, die sich fußlos hin und her über ein schönes altes Steinpflaster bewegen, macht programmatisch klar, um was es geht: Um einen ungewohnten Genuss von Sinneseindrücken.

Dabei der Filmmusik eine neue tragende Rolle zu geben, war ein großartiger Gedanke. Eine zarte Musik begleitet die Dialoge, die sämtlich gesungen werden. Nur gelegentlich schwingt sie sich als Erkennungsmelodie für die Liebenden ein wenig auf, läst dem permanenten Rezitativ aber keine Arien folgen. Das war absolut ungewöhnlich. Aber ist nicht das Schauspiel zur Oper weiterentwickelt worden, wie auch zur Operette und ihrer moderneren Form, dem Musical? Hat nicht der Rundfunk sich eine neue Kunstform einfallen lassen, das Hörspiel? Und ist nicht auch aus dem Fernsehen eine neue Gattung entstanden, das Fernsehspiel? Warum also nicht aus dem Spielfilm einen veritablen Musikfilm machen?

Dazu das Spiel mit den Farben, die in überraschender Buntheit prangen. Das geht bis hin zur Tapete, die dasselbe Dessin zeigt, wie das Kleid der davor agierenden Schauspielerin. Jacques Demy nannte seinen Film den „ersten Film in Farbe und Gesang“. In derselben Weise gestaltete er auch noch die Filme „Die Mädchen von Rochefort“ (1967) und „Ein Zimmer in der Stadt“ (1982).

„Die Regenschirme von Cherbourg“ wurden ein viel bejubelter Erfolg, mehrfach preisgekrönt. Heute können wir dieses Bemühen um einen wirklich neuen Filmstil als eine Sackgassenentwicklung sehen – aber nicht abtun. Vielleicht ist Jacques Demy bloß zu früh gestorben, um seiner Idee eine Zukunft zu geben. Jedenfalls hat sich seine Ehefrau, die Filmregisseurin Agnès Varda, sehr verdient gemacht um das Meisterwerk ihres verstorbenen Mannes, als sie Anfang der 90er Jahre eine neue Kopie des Films erstellen ließ, in der die verblassten Farben aufgefrischt und die Musiken ganz neu eingespielt wurden. So bleiben die Regenschirme, diese typischen Schlechtwetter-Symbole, weiterhin bewunderte Artefakte in einem Rausch der Sinne.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de/category/filmbesprechungen/)

Dieser Beitrag wurde unter Filmbesprechungen veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.