Die Möwe

(The Sea Gull, USA 1968, 141 Min., Regie: Sidney Lumet, Drehbuch: Moura Budberg nach dem Drama „Die Möwe“ von Anton Tschechow)

Obwohl schon 1963 in Deutschland unter der Regie von Wolfgang Glück und mit dem Originaltitel „Die Möwe“ verfilmt, glaubte man fünf Jahre später in den USA eine Neuverfilmung dieses Dramas machen zu müssen. Was einem die Frage aufdrängt: Weil Tschechows Stück so eminent wichtig ist oder weil man eine ganz neue Art der Verfilmung zu bieten hat?

Eine Bereicherung der Filmkunst ist dieses Machwerk ganz sicher nicht. Diese Alternative kann also von vornherein ausscheiden. Denn was hier in Überlänge geboten wird, ist weit mehr gefilmtes Theater als Spielfilm. Die Beschränkung auf ganz wenige Schauplätze in sparsam eingesetzten Kulissen, die kleine Anzahl von Darstellern, die aus dem Hintergrund kommen und wieder in ihm verschwinden, die endlosen Monologe, die sie von sich geben, das fast völlige Fehlen von Aktion, das alles kennen wir von der Bühne her. Zugegeben, die Schwarzblende nach jedem Akt und der Zwischentitel „Zwei Jahre später“ sind filmische Gestaltungsmittel, aber mit Filmkunst hat das nichts zu tun.

Also muß man sich mit der Suche nach der tieferen Bedeutung von Tschechows Stück beschäftigen. Immerhin das Werk eines der Großen der russischen Literatur. Anton Pawlowitsch Tschechow, 1860 geboren und bereits 1904 an seiner Lungentuberkulose gestorben, war Arzt und Menschenfreund. Und schon nach wenigen Jahren ärztlicher Tätigkeit überwog der Menschenfreund in ihm. Er sah, daß er mit seinem literarischen Schreiben weit mehr Menschen Hilfe bieten konnte als mit dem Verschreiben von Medikamenten. Wenn seine literarische Medizin auch meist bitter war. „Ich wollte den Menschen ehrlich sagen: Seht, wie schlecht und langweilig ihr lebt.“ So hat er selbst seine zwischen Satire und Humor, Komik und Gesellschaftskritik changierende Literatur charakterisiert. Hatte er zunächst kleinere Erzählungen sowie den sensationellen Bericht über seine Reise in die Strafkolonie auf Sachalin geschrieben, so wurde er allmählich der große Dramatiker. Und mit dem ungewöhnlichen Stück „Čajka“ (Die Möwe), angeblich eine Komödie, 1896 uraufgeführt, sowie den folgenden Dramen ein kühner Neuerer des Theaters. Was ihn zunächst auf absolutes Unverständnis stoßen ließ. Nur noch das Gegeneinander von Seelenzuständen statt großer Aktivität. Die Ablösung des kritischen Realismus durch ein impressionistisches Stimmungsdrama. Das war für die Bühne revolutionär – und deshalb für die Theaterfreunde gewöhnungsbedürftig.

Doch heute werden diese Stücke noch gern auf die Bühne gebracht. Das heißt dann wohl: Anton Tschechow, der Autor des Fin de siècle, nimmt zu den brennenden Problemen Stellung, die uns betreffen, die wir schon ein weiteres Jahrhundertende mit noch mehr Dekadenz hinter uns gebracht haben. Nun ja, wem das genügt, der soll es haben. Dabei sind die Tschechow-Dramen ganz sicher nicht von so zeitlos grundsätzlicher Gültigkeit wie „Hamlet“ oder „Faust“. Dafür waren sie viel zu sehr aktuelle Zeitkritik, waren Soziologie im Bühnenformat, ähnlich den Stücken von Ibsen oder Horvath.

Aber bleiben wir beim Kinofilm. In diesem Film geht es einem auf die Nerven, hören zu müssen, wie immer wieder einer dem anderen mit falschen Worten bestätigt, er habe wirklich Talent, und wie jeder jedem in weinerlichem Ton gesteht, er sei ja so schrecklich unglücklich, und wie der feststellt, daß er die liebt und die meint, den zu lieben … Mal sagt eine der Protagonistinnen: „Mich zieht es zu dem See wie eine Möwe“, dann wird einer Möwe der Kopf abgehackt, schließlich wird noch eine ausgestopfte Möwe rundgereicht, mit Kopf, dem Kinobesucher aber bleibt vermutlich verborgen, was es mit der Möwe auf sich hat. Für uns Heutige sind Möwen die Ratten des Himmels, der Amerikaner schimpft „Dammned Sea Gull!“, wenn er beschissen wurde.

Beides hat Tschechow natürlich nicht gemeint, als er die Idylle am See beschrieben hat, in der die gelangweilten Menschen so unglücklich sind, am allerunglücklichsten aber der Jungdramatiker, der mit seiner Zukunftsvision nicht ankommt. Wenn alles Leben seit Jahrtausenden erloschen ist, so die Exposition seines Stückes, das er den Verwandten und Bekannten auf der improvisierten Waldbühne vorspielen läßt, wenn im Weltall allein der Geist bleibt, die Weltenseele, zu der sich alle Seelen verschmolzen haben, das Bewußtsein der Menschen sich mit dem Instinkt der Tiere vereinigt hat, dann – dann bricht der exaltierte Möchtegern-Künstler die Vorstellung wegen dämlicher Zwischenrufe ab.
Mit Recht. Denn noch ist nicht alles Leben erloschen, noch geht es darum, mit diesem Leben zurechtzukommen. Und da sind einige Leute um ihn herum, die bei aller Langeweile eine gescheitere Haltung zum Leben einnehmen. Wie der Berühmte, der sagt: „Das Wichtigste ist die Fähigkeit zu leiden, nicht der Ruhm.“ Oder der Autor, der feststellt: „Wie leicht ist es, ein Philosoph auf dem Papier zu sein, und wie schwer ist es in der Realität.“

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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