Die Legende vom Ozeanpianisten

(La leggenda del pianista sull’ oceano, USA, Italien 1999, 125 Minuten, Drehbuch und Regie: Giuseppe Tornatore, nach der Erzählung von Alessandro Baricco: Novecento – Die Legende vom Ozeanpianisten)

„Niemand würde mir ein Wort glauben.“ Der Satz des Erzählers Max wird wie eine Fackel der Filmhandlung vorangetragen. Die wahrhaftig ein besonderes Licht braucht, um glaubhaft zu wirken. Ist in dieser Legende doch alles so legendär wie eben möglich. Was schon mit dem Titel anfängt, in dem aus einem Schiffspianisten ein Ozeanpianist gedrechselt wird. Die Rahmenhandlung zeigt einen freundlich-korpulenten Musiker in einer Musikalienhandlung, wo er seine geliebte Trompete verkauft. Für Kleingeld. Also übers Ohr gehauen von dem alten Händler, aber offenbar in großer Geldnot. Als er sich die Gunst erbittet, noch ein letztes Mal auf seinem Instrument spielen zu dürfen, bläst er eine Melodie, die niemand kennen kann, die der Händler jedoch auf einer Schallplatte hat. Damit verbindet die beiden ungleichen Geschäftspartner plötzlich ein großes Fragezeichen, und der Kunde muß dem Ladenbesitzer die Geschichte dieser Melodie erzählen, damit dieser ihm erklären kann, wie er die Platte in die Hand bekommen hat.

Ein schwarzer Heizer findet nach der Neujahrsnacht 1900 auf dem in New York angekommenen und von allen Gästen verlassenen Transatlantikdampfer „Virginian“ in einer Obstkiste ein neugeborenes Kind. Er sieht darin das gute Zeichen eines neu angebrochenen besseren Jahrhunderts und nimmt den Knaben mit in die Unterwelt der Heizanlagen, gibt ihm den Namen Neunzehnhundert und zieht ihn wie seinen eigenen Sohn auf. Als der Quasivater tödlich verunglückt, bleibt der Junge in dieser Nebenwelt, von den Heizern und Kohlentrimmern betreut. Er erkundet das Schiff, findet Gefallen an dem Konzertflügel im prächtigen Festsaal und überrascht mit einem besonderen Talent zum Klavierspielen. Der junge Mann mit dem Namen Neunzehnhundert, der keine Papiere und keinen anderen Wohnsitz hat als das Schiff, wird zum vielbestaunten Konzertpianisten. Als der so arrogante wie berühmte Jelly Roll Morton, der angebliche Erfinder des Jazz, an Bord kommt und das Nichts namens Neunzehnhundert zu einem Wettstreit herausfordert, wird er von dem jungen Mann am Flügel deklassiert. Und das Publikum der Ersten Klasse ist begeistert, die Presse feiert den neuen Star.

Neunzehnhundert hat nichts außer seinem Klavierspiel und seinem Freund Max, dem Trompeter der Bordkapelle, sowie dem Schiff, mit dem er jahraus, jahrein zwischen Europa und Amerika hin und her pendelt. Der Freund staunt über die Fähigkeit des Pianisten, die Menschen seiner Umgebung musikalisch zu zeichnen. Er schildert ihm die Chancen, die er in der Welt draußen hätte. Max will Neunzehnhundert dazu bewegen, auch einmal von Bord zu gehen. Doch Neunzehnhundert geht nie an Land. Die drängenden Fragen seines Freundes, warum er sich nicht dem Leben draußen öffnet, tut er mit der Bemerkung ab: „Die Menschen verbringen zuviel Zeit damit, nach dem Warum zu fragen.“ Ein Satz, der nachdenklich macht, weil jedermann klar ist, daß die Frage nach dem Warum das A und O aller kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung ist. Damit wird gezeigt, daß die übliche Bezeichnung Wunderkind nicht genügt, wo eine besonders erstaunliche Leistung gezeigt wird. Dahinter steht immer ein adäquat erstaunlicher Verzicht.

Als der Pianist auf dem Schiff eine Plattenaufnahme macht, sieht er vor dem Bullauge ein Mädchen, das ihn nicht beachtet. Während er fasziniert das stupsnäsige Gesicht studiert, entwickelt sich unter seinen Händen ein Liebeslied. Er glaubt, in dem Mädchen die jüngste Tochter eines Auswanderers zu erkennen, der ihm vor Jahren gestanden hatte, seine gesamte Familie verloren zu haben, bis auf die jüngste Tochter, die er eines Tages nach Amerika nachkommen lassen wolle. Der Pianist ist hingerissen, will das Mädchen ansprechen, ihm die Platte schenken, aber die schüchterne Kontaktaufnahme gelingt im turbulenten Gedränge der Auswanderer nur halbwegs, als das Mädchen von Bord geht. Immerhin erfährt er die Adresse. Doch als sein Freund Max ihn Jahre später endlich dazu überredet hat, an Land zu gehen und dieses Mädchen aufzusuchen, und er sich tatsächlich dazu aufrafft, kommt er nicht weiter als bis auf die Gangway. Er kann sich nicht von dem Schiff trennen, das sein Leben ist.

Dann trennt der Erste Weltkrieg ihn von seinem Freund Max, der eingezogen wird. Nachdem der Dampfer „Virginian“ als Lazarettschiff gedient hat und immer mehr heruntergekommen ist, droht ihm in den Dreißigerjahren das Ende. Alle wertvollen Einrichtungsgegenstände wie zuletzt auch noch der große Kronleuchter aus dem Festsaal werden herausgenommen, dann wird kistenweise viel Dynamit an Bord gebracht. Das Schiff soll nicht verschrottet sondern versenkt werden. Warum, ist nicht ersichtlich. Das ist der Moment, in dem Max sich als wahrer Freund erweist, er erkämpft sich das Recht, noch einmal an Bord zu gehen. Er sucht seinen Freund Neunzehnhundert, weil er sicher ist, daß der das Schiff nicht verlassen hat. Als er ihn schließlich gefunden hat, allein und im Smoking zwischen den Trümmern der ehemaligen Schiffseinrichtung, stößt er auf eine absolut unbeirrbare Todesbereitschaft. Die Welt draußen sei ihm zu groß und zu unbegrenzt, sagt Neunzehnhundert. Er will mit seiner kleinen, überschaubaren Welt untergehen.

Der Film spart nicht an schönen Bildern und nicht an attraktiven Schauplätzen, an Dramatik. Doch ist er ausnahmsweise einmal kein belangloser Actionfilm. Der Plot hat Hand und Fuß und sogar Sinn. Eben eine Literaturverfilmung, wenn die auch dem Zug der Zeit folgend zum Musikfilm wurde. Außer bei dem aufschlußreichen und deshalb etwas zu lang ausgewalzten Schlußdialog der beiden Freunde muß der Betrachter ständig höllisch aufpassen, daß er unter der Dauerbeschallung die wesentlichen Aussagen mitbekommt. Dabei ist die Erkennungsmelodie nicht so ein Ohrwurm, wie im „Ditten Mann“ oder in „Doktor Schiwago“.

Überhaupt nicht kommentiert, sondern dem nachdenklichen Betrachter überlassen, wird die Tatsache, daß die Sprengung des Schiffs erst erfolgt, nachdem Max es verlassen hat. Natürlich muß er dem Abbruchunternehmer dann gemeldet haben, daß er seinen auf dem Schiff vermuteten Freund doch nicht gefunden habe. Er muß seinen Freund also bewußt dem Tode ausliefern. Da tut sich eine neue Dramatik auf, die jedoch einfach unterschlagen wird.

Daß der Autor den in den ersten Stunden des Jahres Neunzehnhundert geborenen hochtalentierten Jungen als den Hoffnungsträger eines neuen, besseren Jahrhunderts präsentieren wollte, wie der schwarze Heizer ihn sah, ist kaum anzunehmen. Vermutlich war Baricco sehr wohl bewußt, daß er nicht das Kind eines neuen Jahrhunderts zur Hauptfigur seiner kleinen Erzählung machte, daß dieses Wunderkind in Wahrheit ein Relikt des untergehenden neunzehnten Jahrhunderts war, das gerade sein letztes Jahr begann. Also ein Fin-de-siècle-Film. Als Kommentar zum nächsten Jahrhundertende geschrieben und verfilmt. Entsprechend schwermütig stimmt die Geschichte den Betrachter. Legenden ranken sich halt immer um Erledigtes. Und Hoffnungen lassen sich leider nicht aus Legenden ableiten.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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