Der Vorleser

(The Reader, USA/Deutschland 2008, 124 Minuten, Regie: Stephen Daldry, Drehbuch: David Hare nach dem Roman „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink)

Der Anfang ist zum Kotzen, das Ende Trauer und Irritation, dazwischen aber öffnet sich einem ein Film, der mitreißt. Weil er zwei Menschen zeigt, die ein beinahe schon antik anmutendes Schicksal aufeinander wirft, glücklich macht und scheitern lässt.

So banal die Ausgangsposition ist – eine Straßenbahnschaffnerin hilft einem jungen Burschen, dem schlecht geworden ist – , so überraschend ist die Fortsetzung der Zufallsbegegnung: Der Fünfzehnjährige brave Junge Michael Berg, der mit einem Blumenstrauß in der Hand die einundzwanzig Jahre ältere Samariterin Hanna Schmitz aufsucht, um sich zu bedanken, wird von ihr zum Mann gemacht. Er lernt bei Hanna eine Liebe kennen, die keine Fragen stellt, die ihm aber die gleichaltrigen Mädchen seiner Umgebung vollkommen uninteressant werden lässt. Dabei gefällt ihm das lebhafte Interesse Hannas an Büchern, die sie sich von ihm vorlesen lässt. Dann plötzlich ist Hanna verschwunden.

Erst nach vielen Jahren sieht Michael als Jurastudent, der vom Zuschauerraum aus wichtige Prozesse verfolgt, Hanna wieder. Sie ist eine von sechs Frauen, die auf der Anklagebank sitzen: Ehemalige Aufseherinnen des Konzentrationslagers Auschwitz. Ihnen wird vorgeworfen, kurz vor Kriegsende auf dem Todesmarsch der letzten Häftlinge des aufgelösten Lagers für den Tod von dreihundert Frauen verantwortlich zu sein. Fünf der Frauen behaupten, Hanna sei die Anführerin gewesen und habe den schriftlichen Befehl gegeben, die Türen der durch Bomben in Brand geratenen Kirche, in der die dreihundert Frauen über Nacht eingesperrt waren, nicht zu öffnen. Hanna verzichtet auf die vom Vorsitzenden Richter verlangte Schriftprobe, die sie entlasten könnte, und bekennt sich als die Hauptverantwortliche schuldig. Was den fünf ehemaligen Kolleginnen wegen Beihilfe zum vielfachen Mord jeweils nur etwas mehr als vier Jahre Gefängnis einbringt, ihr aber als der Vielfach-Mörderin ein Lebenslänglich.

Die Ablehnung der Schriftprobe lässt den Jura-Studenten Michael plötzlich ahnen, Hanna könnte eine Analphabetin sein. Hat sie sich doch immer nur vorlesen lassen, schon im KZ und auch von ihm. Er hat sie nie lesen gesehen, auch nicht die Speisekarte bei einem Sommerausflug. Michael versteht: Für Hanna ist es schwerer, sich als Schriftunkundige zu erkennen zu geben denn als Mörderin. Michael, inzwischen ein Rechtsanwalt mit gescheiterter Ehe und einer Tochter, zu der er keine festere Beziehung hat, bringt es zwar nicht über sich, Hanna im Gefängnis zu besuchen, schickt ihre jedoch Tonbänder, auf die er selbst die Bücher gesprochen hat, die sie sich von ihm hatte vorlesen lassen. Damit hilft er ihr über die Jahre hinweg.

Der Autor Bernhard Schlink, 1944 bei Bielefeld geboren, aufgewachsen in Heidelberg, arbeitete als Richter und Rechtsprofessor und lebt heute als Pensionär und Schriftsteller in Berlin und New York. Bis auf die Rahmenhandlung, in der Michael Berg seiner Tochter Julia die Geschichte erzählt, ist der Film eine weitgehend getreu und perfekt inszenierte Umsetzung seines 1995 erschienenen Romans.

Wohl der Höhepunkt des Films ist die Szene vor Gericht, als deutlich wird, wie naiv Hanna war, als sie an die Stellung als KZ-Aufseherin kam. Ihre Frage, ob sie bei Siemens hätte bleiben sollen, war offensichtlich keine Taktik. Genauso wenig wie ihre Frage an den Richter: Was hätten Sie denn gemacht?, als es um die geschlossenen Türen der brennenden Kirche ging. Ihr Rückzug auf die Verantwortung für die Gefangenen, die sie als Aufseherinnen hatten, die sie deshalb doch nicht einfach entlaufen lassen durften, macht sprachlos. Dieser Prozess zeigt mit Hanna einen Menschen, der in einer als ausweglos empfundenen Situation festgesteckt hatte. Das könnte von einem der griechischen Klassiker geschildert worden sein, denen es ja nicht um die Frage nach Schuld oder Unschuld ging, sondern um das unausweichliche Unterworfensein unter ein hartes Schicksal.

So stark und erschütternd eine solche Filmszene ist, die Schilderung im Buch ist ihr doch noch überlegen. Sie zeigt einen Autor, der seinen Lesern die Tränen in die Augen treiben kann mit einer nüchternen Sprache, die auf alle sprachlichen Leuchteffekte verzichtet, einer Sprache, die fast schon karg ist – Berufskrankheit der Juristen, die gelernt haben, dass alles, was nicht notwendig ist, weggestrichen wird, auch wenn es noch so richtig ist. Im Buch ist Michaels Vater zwar ein Philosophieprofessor, doch dem Film genügt das schlecht besuchte Seminar eines Juraprofessors, beides ein geschickt gewähltes Mittel zur Überhöhung der Thematik. Doch als Film oder Buch über die Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten kann „Der Vorleser“ nicht verstanden werden, weil dazu nur Unzulängliches geboten wird. Beschränkt sich doch die Verbindung der nachfolgenden Generation mit der Tätergeneration auf Sprachlosigkeit und auf Sex, dieser zum Glück nur in sanfter Dosierung. Und der Begriff KZ bleibt steril.

Der Einfall mit der verschlossenen Kirche, die brennt und den Eingeschlossenen keine Überlebenschance lässt, war für den in Heidelberg aufgewachsenen Bernhard Schlink naheliegend. Die französischen Eroberer Heidelbergs haben im Jahre 1693 exakt diesen Massenmord an Hunderten in die Heiligeistkirche geflüchteten Heidelberger Bürgern zelebriert, als sie alle Türen der in Brand geschossenen Kirche zugesperrt hielten. Doch hat der Autor auf diesen Hinweis verzichtet. Und der Verlag hat ein für dieses Buch belangloses Gemälde aus Berlin auf den Buchtitel gebracht anstelle der Heidelberger Heiliggeistkirche. Recht so. Vermeidung jeder Relativierung, jeder Verkleinerung des Verbrechens an den KZ-Häftlingen. Was bemerkenswert erscheint, weil dem Autor von „Der Vorleser“ in der Presse schon Verharmlosung vorgeworfen wurde.

In der vorletzten Szene des Films tritt der Rechtsanwalt Michael in New York der einzigen Frau gegenüber, die als Kind von ihrer Mutter aus der brennenden Kirche gerettet worden war. Eine Jüdin, die es hochmütig ablehnt, das ihr von Hanna hinterlassene Geld anzunehmen, weil es im Judentum keine Absolution gibt. Sie nimmt nur die alte Teedose an sich, in der Hanna ihr Geld aufbewahrt hatte. Mit der Erklärung, eine ähnliche Teedose, die ihr sehr gefallen hatte, sei ihr im KZ gestohlen worden. Ein schon fast zu neckischer Hinweis auf das Talionsprinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Michael bleibt nur die Verlegenheitslösung, Hannas Ersparnisse einer jüdischen Organisation zur Förderung des Alphabetismus zu spenden.

Zum Film wie zum Buch sind einige grundsätzliche Anmerkungen zu machen: Bernhard Schlink wusste als Jurist natürlich, dass es Hanna nichts genutzt hätte, wenn sie im Prozess die Schriftprobe gemacht, also zugegeben hätte, dass sie nicht lesen und schreiben kann. Juristisch wäre die Sache dann die Konsequenz gewesen: Weil auch durch die offensichtliche Unfähigkeit des Gerichts nicht zu klären ist, welche von den sechs Frauen den Befehl gegeben hat, haben alle sechs gemeinsam den vielfachen Mord begangen. Deshalb werden alle sechs als Mörderinnen zu lebenslanger Haft verurteilt. Für Hanna gab es also keine Chance, besser wegzukommen. Der Autor Schlink lässt aber um der Dramatik will lieber den Eindruck entstehen, Hanna habe sich unnötiger Weise zur Lebenslänglichen gemacht. Damit verstärkt er das Entsetzen darüber, dass es einem Menschen schwerer fallen kann, sich als Analphabet zu erkennen zu geben, denn sich als Lebenslängliche einsperren zu lassen.

Schlink hat mit Hannas Analphabetismus zwar sehr geschickt ein Thema aufgebaut, das noch nicht breitgetreten war, es aber auch überstrapaziert. Und er selbst hat Hannas erstaunlicher Literaturbegeisterung und ihrem eisernen Willen beim Lesenlernen im Gefängnis am Ende mit Hannas Selbsttötung den Stempel aufgedrückt: Literatur nützt überhaupt nichts. Kaum glaublich, dass das die Meinung von Bernhard Schlink ist. Vielmehr muss man hinnehmen, dass der Autor, der zuvor mit Kriminalromanen Erfolg hatte, bei dieser Konstruktion seines ersten Nicht-Krimis dem üblichen Wunsch von Krimiautoren nach dem ungewöhnlichen und absolut neuartigen Fall auf den Leim gegangen ist. So wurde der Erfolg als Bestsellerautor unausweichlich.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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