Das Wunder von Bern

(Das Wunder von Bern, D 2003, 117 Min., Regie: Sönke Wortmann, Drehbuch: Sönke Wortmann und Rochus Hahn)

Das Ruhrgebiet im Frühjahr 1954: Rundum eine Orgie in Tristesse, die von Mülleimern geprägt ist, Gesichter in der Kneipe, die von Arbeit gezeichnet sind. Und dann läuft ein Zug mit Spätheimkehrern aus Rußland auf dem Essener Bahnhof ein. Die Kneipenwirtin mit ihren drei Kindern auf dem Bahnsteig, wie sie ihren nach zwölf Jahren heimkehrenden, völlig ausgelaugten Mann empfängt. Bilder, die großes Kino sind. Der Mann dann bei seinen unsicher tastenden und prompt mißglückenden Versuchen, sich wieder in das Alltagsleben einzuordnen. Seine übertriebene Strenge und schließlich die notwendige Zurechtweisung durch seine Frau, die in seiner Abwesenheit zur geschickten Geschäftsfrau geworden ist. Das ist immer noch in der Tradition von „Fahrraddiebe“ oder „Bitterer Reis“ und paßt, wenn auch nicht unbedingt ins Drehjahr 2003, so doch zum geschilderten Jahr 1954. Der jüngste Sohn des Spätheimkehrers, gerade elf Jahre alt und begeisterter Taschenträger seines Idols Helmut Rahn, Star von Rot-Weiß-Essen, überwindet auf dem Bolzplatz seine Hemmungen und wird endlich zum brauchbaren Mitspieler der Kindermannschaft, während im Radio eine Fußballübertragung zu hören ist. Eine Szene, die zeigt, was filmisch alles möglich ist.

Doch nach diesem eindrucksvollen Aufschwung verläuft sich alles in Kitsch. Der frisch verheiratete dämliche Reporter mit seiner überkandidelten Strahlefrau auf einer Hochzeitsdienstreise und der Spätheimkehrer mit seinem Jüngsten auf einer Wiedergutmachungsreise im geliehenen Pfarrerswagen in die Schweiz. Dann das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft 1954, das am 4. Juli in Bern stattfand. Der in mancher Hinsicht, vor allem für das Selbstbewußtsein der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeneration bedeutsame Kampf der eigentlich unschlagbaren Ungarn gegen die Außenseiter Deutschland leider durch Schauspieler improvisierend nachgestellt statt mit Original-Filmmaterial illustriert. Der total exaltierte Rundfunkreporter Herbert Zimmermann noch einmal ein großer Eindruck, erst recht der unerschütterliche Bundestrainer Sepp Herberger. Das  Spiel gewinnt Deutschland, was als Wunder von Bern in die Sportgeschichte eingeht.

Der Film serviert dieses Wunder jedoch in albernster Weise: Helmut Rahn hatte seinem Taschenträger erklärt, daß er wichtige Spiele nur gewinnen könne, wenn der Junge dabei sei. Was der ernst genommen hatte. Und der Kinobesucher muß es nun auch ernstnehmen, weil er sieht, wie das plötzliche und völlig unerwartete Auftauchen des Jungen am Spielfeldrand in Bern Helmut Rahn dazu bringt, das entscheidende Siegtor zu schießen. Da kann man nur sagen: So genau wollten wir das mit dem Wunder gar nicht wissen. Dagegen etwas anderes schon. Nämlich die Folgen dieses Wunders für das Massenbewußtsein. Das deutlich zu machen gelingt dem Film nicht, obwohl er dem Schlußpfiff noch einen Appendix anhängt, – wofür der geliehene Wagen des Pfarrers in Bern stehenbleiben muß, wo er vermutlich heute noch steht.

Einmal beim Vermuten, darf man wohl davon ausgehen, daß das Drehbuch von der 1994 erschienenen Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ von Friedrich Christian Delius beeinflußt wurde. Wenn diese Erzählung auch nicht im Vorspann genannt wird, die Parallele schreit geradezu: Vorlage! In der Erzählung wie im Film steht ein Elfjähriger im Mittelpunkt, beherrscht von einem erdrückend übermächtigen Vater. Nur daß aus dem Pfarrer ein Spätheimkehrer wurde, aus dem Pfarrhaus eine Kneipe, aus dem hessischen Kuhdorf eine Bergarbeiterstadt im Ruhrrevier. In beiden Fällen wird das Geschehen aus der Perspektive des Jungen geschildert. Das ergibt bei der Erzählung das unvermeidbare Manko, daß die bestechend schön formulierten tieferen Erkenntnisse unglaubhaft wirken, beim Film hat es den Nachteil, daß die Spätheimkehrerproblematik schnell aufs Nebengleis abgeschoben wird. Bei der Frage, wovon man mehr hat, von dem Film oder von der Erzählung, die gerade soviel Seiten hat, wie der Film Minuten, kann die Entscheidung nur heißen: Drei zu zwei für die Erzählung.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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