Das Mädchen mit dem Perlenohrring

(Girl with a Pearl Earring, GB/Lux. 2003, 95 Minuten, Regie: Peter Webber, Drehbuch: Olivia Hetreed nach dem gleichnamigen Roman von Tracy Chevalier)

Erste Reaktion des Zuschauers: Der Maler kommt aber schlecht weg. Jan Vermeer, der von 1632 bis 1675 gelebt hat und den wir als Vermeer van Delft kennen und bewundern, im Film mit seinem eigentlichen Namen Johannes Vermeer genannt, ist hier der ernsthafte, wortkarge und weltabgewandte Maler. Er hat sich im Obergeschoß des Hauses in einem Atelier vergraben, das für alle tabu ist, sogar für seine eigene Frau und für seine minderjährige Tochter. Doch über den Haushalt und auch über den Maler herrscht die Schwiegermutter, offensichtlich die finanzielle Basis des Familienunternehmens. Sie schafft es, ihren Schwiegersohn immer wieder mit einem so reichen wie widerlichen Mäzen zusammenzubringen, um einen neuen Malauftrag für ihn und damit Geld für die Haushaltskasse zu ergattern.

Als eine neue Magd ins Haus kommt, die Griet, Tochter eines armen und kranken Kachelmalers, erkennt Johannes Vermeer sehr schnell an wenigen Kleinigkeiten im Verhalten des scheuen Mädchens – sie befürchtet, das Licht zu verändern, wenn sie das Atelierfenster putzt, und sie nimmt einen Stuhl aus dem Bildarrangement, der eingeklemmt wirkt – ihre besondere Begabung für die bildliche Darstellung. Er macht sie zu seiner Helferin im Atelier und läßt von ihr sogar die Farbstoffe einkaufen und mischen. Eine sehr komplizierte Arbeit, also eine besondere Vertrauensstellung.

Der geile Mäzen findet Gefallen an dem Mädchen, dem er vergeblich nachstellt, und gibt ein Porträt von Griet in Auftrag. Davon darf Vermeers eifersüchtige Frau nichts wissen. Die Magd ziert sich, doch der Maler besteht auf seinem Wunsch, sie zu malen. Für dieses Bild leiht die Schwiegermutter dem Maler sogar heimlich die Perlohrringe ihrer Tochter. Was die mißgünstige Tochter des Malers mitbekommt und ihrer Mutter verrät. Prompt macht die Frau ihrem Mann deswegen eine Szene und verlangt unter Tränen, das gerade fertiggestellte Porträt zu sehen. Die schlichte Schönheit des Mädchenbildnisses bringt sie dann so in Rage, daß sie die Magd auf der Stelle aus dem Haus jagt. Und der Maler schaut nur gequält drein, schweigt aber dazu.

Daß dem auf die Straße gesetzten Mädchen kurz darauf die Perlohrringe als Geschenk nachgeschickt werden, wobei offen bleibt, ob von dem Maler selbst oder von seiner Schwiegermutter, nimmt dem Desaster nicht den schlechten Geschmack. Es bleibt der erste Eindruck des Zuschauers: Der Maler ist ein blöder Hund.

Erst wenn man den Maler Vermeer van Delft für den Künstler an sich nimmt, bekommt die Sache das richtige Aussehen. Denn für das 17. Jahrhundert nicht anders als für alle früheren und späteren Jahrhunderte gilt: Der Künstler gleich welcher Gattung lebt neben dem Alltag des Nötigen und Brauchbaren her, entsprechend nichtalltäglich ist seine Stellung in der Gesellschaft. Wie ein Priester steht er über den Ambitionen und Querelen der Mitmenschen, so unantastbar wie der Mann mit den segnenden Händen, aber auch so machtlos. Und jede Förderung, die man ihm bietet, ist mehr Forderung als ein Zeichen des Dankes dafür, daß er seinen Mitmenschen etwas gibt, das über den Alltag hinaushebt.

So gesehen, kommt nicht der Künstler Vermeer van Delft schlecht weg, sondern die Gesellschaft, in der er lebt. Weil sie ihn in völliger Abhängigkeit kleiner und erbärmlicher erscheinen läßt, als er ist. Zeigt er doch in Wahrheit die geradezu übermenschliche Größe, es um der Kunst willen zu ertragen, daß er klein und erbärmlich wirkt. Zwar nicht für die Zukünftigen, die ihn ehren werden, davon darf er überzeugt sein, denn vergangene Größe wird immer gefeiert, wohl aber für all die blöden Hunde unter seinen Zeitgenossen rundum.

Das zwischen 1660 und 1665 gemalte Bild des Mädchens mit der Perle hängt heute im Museum Mauritshuis in Den Haag und gilt als eines der großartigsten Gemälde der holländischen Klassik. Die 1962 in Washington D.C. geborene und heute in London lebende Schriftstellerin Tracy Chevalier hat im Jahre 1998 ihren Roman über eine ungerecht behandelte Hausangestellte geschrieben, der immanent eine Abhandlung über das Dilemma des Künstlerseins ist.

Und was soll man noch zu dem Film sagen? Er war seinem Gegenstand adäquat. Das helle Licht, das einen besonderen Schmelz gibt, und die reichabgestufte Farbigkeit. Dazu eine spannende Handlung in dem ausführlich gezeigten wirren Milieu der Stadt Delft des Jahres 1665, die mit ihren schmalen Grachten wie ein niederländisches Venedig erscheint.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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