Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt

Die dreifache Maßlosigkeit

(Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, Roman, Rowohlt Taschenbuch-Verlag, Reinbek 2008, 303 Seiten, 9.95 €)

Das Buch ist schon 2005 erschienen, also geht es nicht mehr darum, schnell eine möglichst großartig klingende Bemerkung abzusondern, um auf dem Buchumschlag als Kommentator mit einem Werbespruch zu erscheinen, wie das die großen Zeitungen machen, die Vorausexemplare bekommen. Jetzt kann der Rezensent ernsthaft an das Buch herangehen.

Ein romanhaftes Doppelporträt: Alexander von Humboldt (1769-1859) und Carl Friedrich Gauß (1777-1855). Da fragt man sich: Wie kommt ein Romancier auf diese Idee? Wenn ihn dieser umtriebige Alexander von Humboldt interessierte, der sich tausendmal in Lebensgefahr gebracht und doch ein Patriarchenalter erreicht hat, dann hätte es natürlich nahegelegen, ihn seinem etwa zwei Jahre älteren Bruder Wilhelm von Humboldt gegenüberzustellen. Aber das wäre ein neuer Aufguss des uralten Tees Naturwissenschaft contra Geisteswissenschaft geworden und des ebenso abgehandelten Themas der Geschwisterrivalität. Das hat Kehlmann vermieden. Dafür muss man ihm dankbar sein. Stattdessen zwei Naturwissenschaftler vorzustellen, passte auch viel besser in die Zeit der Erzählung, die im ersten Satz des Buches auf 1828 festgelegt wird. War das 19. Jahrhundert doch das Jahrhundert der Naturwissenschaften und der Technik.

Dass er dieses Buch über zwei Männer von so außergewöhnlichem Format überhaupt im Jahre 2005 veröffentlichen konnte, und das sogar mit durchschlagendem Erfolg, sagt etwas über unsere Gegenwart: Wir haben endlich die Gleichmacherei der Postkommunisten überwunden, unter deren Herrschaft in den Medien Begriffe wie Genie und Elite verboten waren. Kehlmann konfrontiert uns ungeniert mit Elite-Beispielen, wenn er Nebenfiguren wie Goethe und Lichtenberg und Forster und Kant und Wilhelm von Humboldt auftreten lässt. Und er scheut sich nicht, seine beiden Protagonisten Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß als Genies hinzustellen. Die Ungerechtigkeit von Mutter Natur in der Verteilung von Intelligenz wird nicht mehr kaschiert.

Dabei werden die beiden Genies durchaus nicht zu Sympathieträgern hochstilisiert. Wie der Autor sie von der menschlichen Seite beleuchtet, das ist so feinfühlig wie pfiffig. Der zweifellos bewundernswerte Gauß entpuppt sich als der totale Fiesling, der nicht minder bewundernswerte Humboldt als ein Verrückter. Kürzeste Szenen, die entlarvend sind statt wertender Bemerkungen des Autors. Abwechselnd werden die beiden Protagonisten jeweils in selbständigen Kapiteln auf einem Stück ihres Lebensweges gezeigt. Dabei werden selbst die aufregendsten Ereignisse zu wenigen Zeilen eingedickt, aber zu Zeilen, die Wort für Wort sitzen. Der Text dieses Buches ist von einer Schlichtheit, die Erstaunen weckt und weitertreibt. Die kurzen Sätze passen zu dieser Einfachheit der Darstellung. Da gibt es Glanzstücke der Lapidarität. Die unvorbereitet kommenden gelegentlichen sarkastischen oder zumindest ironischen Bemerkungen sind wie Rosinen im Sandkuchen. Ein Lesegenuss. Das gilt zumindest für die erste Hälfte des Romans, danach wird die Erzählung leider etwas langatmig. Und am Ende wird ihr als zusätzliches kurzes Kapitel noch ein in anderem Stil gebrachter Appendix angehängt, den der Verlag ruhig hätte wegoperieren können. Denn der Autor hatte offensichtlich das vorletzte Kapitel mit einem passenden Schlusswort beendet, nämlich mit einer neu aufgeworfenen weiterführenden Frage.

Das Buch ist ein doppelter Abenteuerroman und gleichzeitig ein historischer Roman, dies jedoch anders als meist üblich. Tobt doch in den historischen Romanen, die heute stapelweise in den Buchhandlungen liegen, als Protagonist fast immer eine Phantasiefigur, meist weiblich, weil die Leserschaft fast nur noch weiblich ist, sich vor historischer Kulisse aus, wobei das ganze Brimborium der Umstände bis zum letzten Strumpfband und Kragenaufstellen ausführlich erzählt wird. Nicht so bei Kehlmann. Hier ist die Chose umgekehrt. Alle Verlegenheitsillustrierung lässt er weg. Er hat offensichtlich nicht für Zeilenhonorar geschrieben, musste dem Verleger keine 500 bis 600 Seiten liefern, um die Kosten des Umschlags und des Bindens im Verhältnis zum Ladenpreis sinken zu lassen.

Kehlmann hat einen Weg gefunden, sein Buch über den Abenteuerroman und auch über den historischen Roman hinauszuheben und als ein Stück hoher Literatur erkennbar zu machen. Er hat jede wörtliche Rede vermieden, indem er alle Äußerungen seiner Personen in den Konjunktiv verwandelt hat. So konsequent, wie er dieses Stilmittel anwendet, zeigt er sich genau so maßlos wie seine beiden Protagonisten. Das könnte man als bloßen Gag kritisieren. Man kann diesen radikalen Konjunktivismus aber auch als einen Akt der Ehrlichkeit sehen. Dann zeiht Kehlmann damit jede andere Art der Darstellung von Gesprächen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, der Lüge. Immerhin hat der Autor ja nicht mit dem Mikrophon dabeigestanden, als seine Figuren sprachen. So wird dem Leser bei jeder Rede durch den Konjunktiv suggeriert, was er hinzudenken muss, nämlich: Er könnte gesagt haben …

Nicht zu vergessen, dass der Roman auch einen Inhalt hat. Das ist er: Einige Stationen aus dem Leben des stets in zu kleinen Verhältnissen lebenden großen Mathematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß werden einigen Stationen der großen Forschungsreise in die Äquinoktialgegenden Amerikas des reichen Freiherrn Alexander von Humboldt gegenübergestellt.

(Walter Laufenberg in: ww.netzine.de)

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