(Cinema Paradiso, I/F 1989, Drehbuch und Regie: Giuseppe Tornatore, 116 Min.)
Wer kennt sie nicht, die Faszination des Kinos, die ihn als Kind ergriffen hat. Und wer hat nicht die allmähliche Abnabelung erlebt, nachdem er mal als der Filmheld oder die Filmheldin und mal als jener oder jene aus dem Kino in die Nacht hineingetappt war, für eine Nacht und den folgenden Tag ein Stückchen größer und immer noch im Paradies schwebend. Das legte sich mit dem Älterwerden. Irgendwann war der Kinofilm dann nur noch eine schöne Nebensächlichkeit neben anderen wie Skat oder Sportschau oder Reisen. Die lebenslange Bewunderung für die Filmgrößen, von der die meisten sich nicht lösen können, ist noch das letzte Überbleibsel, das man sich von diesem Scheinleben bewahrt hat.
Doch dann kommt dieser mutige, recht moderne Film in die Kinos, mit dem das Paradies der Kindheit sich selbst in Frage stellt. Kommt als eine Hommage an das Kino von damals, als es noch nicht im Wettstreit mit dem Fernsehen und den Videokassetten stand. Und ist nicht nur das, sondern auch eine heimlich aufgeblätterte Geschichte des Films.
Man sieht einen ergrauten und auf bedeutend gestylten Mann, von dem nicht gesagt wird, in welchem Beruf er Karriere gemacht hat. Dieser Mann namens Toto Salvatore erhält die Nachricht, dass in seinem Heimatdorf der ehemalige Filmvorführer Alfredo gestorben ist. In dem Moment läuft vor seinem inneren Auge ab, was seine Kindheit und Jugend war, nämlich ein einziges Kinoerlebnis ohne „cut!“ und „Gestorben.“
In dem kleinen sizilianischen Dorf, das er vor dreißig Jahren verlassen hat, um in Rom die Welt kennenzulernen, war der allabendliche Film im Kino „Cinema Paradiso“ die einzige Unterhaltung der Dörfler. Dem kleinen Toto war es gelungen, die Freundschaft des Filmvorführers Alfredo zu gewinnen. Mit seiner Hartnäckigkeit schaffte er es, Abend für Abend im Vorführraum zu verbringen, aber auch schon am Tag dabei zu sein, wenn der sittenstrenge Dorfpfarrer sich den neuen Film vorführen ließ, um mit einem Glöckchen zu signalisieren, welche Stellen der Vorführer herausschneiden musste. Eine wohlmeinende Zensur, die den Kulturschock mindern sollte, dabei jedoch den Erfolg hatte, dass die Zuschauer sich ärgerten, weil sie nie einen Kuss zu sehen bekamen. Doch sie blieben trotz der Schnippelei dieser einzigen sich ihnen bietenden Vergnügung treu, der kleine Toto wohl vor allem deswegen.
Das frühreife Kerlchen lernte die Welt also etwas intensiver kennen als die Menschen seiner Umgebung. So war es nicht verwunderlich, dass sein größter Wunsch war, ebenfalls Filmvorführer zu werden. Schon hatte er seinem Freund sämtliche Handgriffe abgeschaut, konnte ihn sogar ersetzen, als der durch einen Brand erblindete. Der kleine Toto hatte den Schwerverletzten in letzter Minute aus seiner in Flammen stehenden Vorführkammer die Stahltreppe hinab gezerrt und ihm damit das Leben gerettet. Aus Dankbarkeit verpflichtete der alte und blinde Filmvorführer Alfredo später seinen Freund, als der ein junger Mann war, das Dorf zu verlassen und nie mehr zurück zu kommen. Er solle das Leben in der Großstadt kennenlernen, forderte er. Denn der Film sei nicht das Leben. Dabei war der junge Mann schon drauf und dran, wie im Film zu leben. Er verstand die Strenge seines alten Freundes und Mentors zwar nicht, doch er gehorchte.
So kommt der hochangesehene Toto Salvatore erst nach dreißig Jahren Abwesenheit wieder in sein Heimatdorf, und zwar zur Beerdigung seines alten Freundes Alfredo. Der Film verrät nicht, in welchem Beruf Toto Salvatore zu Ansehen gekommen ist, und bietet den Zuschauern damit wieder das Erlebnis der Kindheit und Jugend, als sie sich selbst in den Helden hineinprojizieren konnten. Jetzt können sie noch einmal wie in den seligen Paradieszeiten dem Popanz den eigenen Kopf aufsetzen.
Und das Überraschende geschieht in einer Nebenrolle: Die alte Mutter, die immer unerschütterlich auf die Heimkehr ihres Sohnes gewartet hat, zeigt volles Verständnis für sein langes Fortbleiben. Damit distanziert sich dieser mal ein wenig sentimentale, mal beinahe lustige Film über das Kino gleich auf doppelte Weise von dem Anspruch, das Leben abzubilden. Sehr ungewöhnlich für eine Hommage und ein Zeichen echter Überlegenheit der Macher dieses Films über die bloße Cineasten-Besessenheit.
Gleichzeitig bietet dieser Streifen auch einen kurzen Abriss der Filmgeschichte: Ausgehend von der Tragik der Analphabeten, die die Zwischentitel nicht lesen können, und gerade die waren ja kennzeichnend für den Stummfilm, über viele Filmtakes aus berühmten Filmen, die zu Handlungsmustern wurden, und die Identifizierung der Leute mit den Sprüchen bestimmter Filmheroen, bis zu dem Blick auf die raffinierte Geschäftstüchtigkeit hinter dem schönen Schein und dem sozialkritischen Hinweis, dass trotz Open-Air-Kino die Piazza, bis dahin das Zentrum der dörflichen Gesellschaft, verkommen ist. Nur noch der Dorfdepp verteidigt seine Piazza.
Diese selbstkritische Filmhistorie, die so unauffällig serviert wird, dass wohl manch einer sie nicht bemerkt, ist für einen Filmenthusiasten, dem es um mehr geht als um eine nette Erfolgsgeschichte und die Bewunderung von Stars, die eigentliche Stärke dieses Films über den Film.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)