(Bergkristall, D 2004, 88 Minuten, Regie: Joseph Vilsmaier, Drehbuch: Klaus Richter nach der 1845 erschienenen gleichnamigen Erzählung von Adalbert Stifter)
Als zum Genre Familienfilm gehörend ordnet die Produktionsfirma diesen Streifen ein, der richtiger als Schmonzette zu bezeichnen wäre. Dabei versucht ein Vorspann, dem Ganzen einen attraktiven Rahmen zu geben und den Bezug zur Gegenwart herzustellen. Wofür Hubschrauber, BMW-Geländewagen, durch Sprengung ausgelöster Lawinenabgang und Stromausfall bemüht werden.
Eine ferienfreudig angereiste Touristenfamilie ist kaum am Ziel, da sitzt sie schon in dem durch die Lawine von der Außenwelt abgeschnittenen Ort fest. Mangels anderer Vergnügungsmöglichkeiten läßt sie sich vom Dorfpfarrer erzählen, was es auf sich hat mit dem Bergkristall, den er im Pfarrhaus aufbewahrt. Der stamme von seinem Urururgroßvater, erfahren sie. Und schon schlägt der Pfarrer eine alte Chronik auf und liest vor, was sein Urahn über den Fund des Bergkristalls geschrieben hat. Soweit dieser Verlegenheitsrahmen ohne jeden eigenen Aussagewert. Ein Vergleich mit der „Feuerzangenbowle“ zeigt, zu was eine Rahmenhandlung dient. Dort sitzen ein paar alte Herren bei der Bowle zusammen und zehren immer noch von den Erinnerungen an ihre Schulzeit, und als sie erfahren, daß einer aus ihrem Kreis nie in einer Schule war, sondern privat erzogen wurde, sehen sie den Freund an, als hätte er seine Jugend verpaßt. Das provoziert den weiteren Film.
Und was bringt die Stifter-Story in Filmfassung? Da gibt es irgendwo ein bitterarmes Bergdorf, und auf der anderen Seite des hohen Hausberges gibt es ein vergleichsweise reiches Bergdorf. Die Leute da haben für die Leute dort wie die Leute dort für die Leute da nur Hass und Verachtung übrig. Das ist so seit Jahrhunderten, und kein Mensch weiß warum. Das ist also etwas zum Kopfschütteln. Tatsächlich kannte man zu Stifters Zeit das Phänomen der Soziologie noch nicht, daß eine Gruppe sich am einfachsten dadurch definiert, daß sie sich von einer anderen ihr ähnlichen und benachbarten Gruppe absetzt, die sie als ihr genaues Gegenstück diffamiert. Das einmal durchschaut, kann man die ewigen Reibereien zwischen Kölnern und Düsseldorfern und ähnlichen Paarungen nur noch lustig finden.
Doch der junge Schuster aus dem armen Bergdorf durchschaut noch nichts. Statt dessen verliebt er sich in die Färberstochter aus dem reichen Dorf und holt sie allen Widerständen zum Trotz schließlich als seine Frau in seine Kate. Damit isoliert er sich in seinem Dorf und bekommt kaum noch Aufträge. Seine Frau bleibt eine Paria, und die beiden Kinder, ein Junge und seine kleinere Schwester, bekommen die Fehlentscheidung des Vaters am eigenen Leib zu spüren: Sie werden die Hackhühner des Ortes.
Die Mutter geht schließlich in ihr Dorf zurück, um den Druck von ihrer Familie zu nehmen. Was aber nichts nützt. Die beiden Kinder besuchen die Mutter, soweit möglich, jeden Sonntag. Auf einer Winterwanderung über den Berg gehen sie bei einem überraschenden Wetterumschlag verloren. Sie fallen in eine Eishöhle und finden dort den Bergkristall, von dem sie gehört haben, daß er Menschen, die getrennt sind, wieder zusammenbringt. Damit wollen sie ihre Eltern wiedervereinen. Die besorgte Mutter macht sich auf die Suche nach ihren Kindern und verirrt sich im Neuschnee. Ihr Vater, der reiche Färber, bricht mit einem Suchtrupp aus dem reichen Dorf auf, um sie zu retten. Und der Schuster macht sich mit Männern des armen Dorfes auf die Suche nach seinen Kindern. Gleichzeitig treffen die beiden Suchtrupps auf die eingeschlafenen Kinder, weil der Bergkristall wie ein Leuchtfeuer funkelt. Alle gerettet, und das am Heiligen Abend. Da knien alle nieder, die Reichen und die Armen, und danken Gott und sind auf einmal einig, einig, einig. Schluß mit dem jahrhundertealten Hass. Weihnachtslieder als Hintergrundmusik
Doch als Kinogänger ist man nicht einig mit dem Filmemacher. Weil man für diesen sentimentalen Schmarren Geld ausgegeben hat. Da trösten einen auch nicht die gewaltige Bergkulisse und der Zauber der „weißen Finsternis“, wie es in einem der viel zu seltenen Stifter-Zitate heißt. Alles schon so oft gesehen. Und daß der christliche Glaube von der Geburt Jesu durch einen anderen märchenhaften Glauben, den an die Kraft des Bergkristalls, ersetzt oder ergänzt wird, bringt auch nichts. Das soziologische Phänomen der Selbstdefinition durch Negation bleibt uns als typisch menschliche Verhaltensweise erhalten, weil darüber nicht aufgeklärt wird. Und der Hass zwischen Arm und Reich hat inzwischen weltweite Dimensionen angenommen, ohne daß der Film darauf hinweist. Der neue Vilsmaier bleibt im Biedermeier stecken.
Daß dieser anachronistische Film im 21. Jahrhundert produziert wurde, ist eine direkte Folge unserer Jubiläumsmanie (Stifters zweihundertster Geburtstag) sowie unseres Fördersystems. Die Geldgeber bestimmen, was uns vorgesetzt wird. Und für die Geldgeber mit ihrem großbürgerlich-plüschigen Bildungsreservoir ist alles, was sich auf Namen wie A. Stifter oder E. Mörike oder Th. Fontane oder E.T. A. Hoffmann oder J. P. Hebel stützt, a priori gut. Dabei hätte man Adalbert Stifter nur ernst zu nehmen brauchen, um einen ernstzunehmenden Film machen zu können. Denn Stifter (1805-1868) war ja kein lieber Märchenonkel. Ein Problematiker par excellence, der den ewigen Kampf des Menschen mit den Gesetzen der Natur beschrieb. Stifter selbst war bei aller Geistigkeit auch ein Stück wilder Natur. Früh vaterlos, das Studium abgebrochen, beruflich nie richtig auf die Füße gekommen, bis man ihn schließlich zum Schulrat gemacht hat, fast immer in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, schließlich Ersatzvater für eine Pflegetochter, die seine Frau und er angenommen hatten, um ihre kinderlose Ehe zu beleben, die dann aber ins Wasser geht. Und mit 62 Jahren ist er so krank – Leberzirrhose -, daß er sich mit seinem Rasiermesser den Tod gibt.
Ein Film über den „Bergkristall“-Autor, der aus dem Biedermeier kommt und im Vormärz nicht Revoluzzer wird, sondern Lehrer, der Bildung als das A und O propagiert, das wäre reizvoll gewesen. Dagegen kann eine Verfilmung der Erzählung „Bergkristall“ nicht gelingen. Denn das erzähltechnisch Besondere an ihr läßt sich nicht filmisch darstellen, nämlich wie jede einzelne Handlung auf die vorher breit geschilderte Hochgebirgslandschaft Bezug nimmt und wie am Ende der Schneefall mit meisterhafter Sprachartistik beschrieben wird.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)