Antonias Welt

Antonias Welt

(Antonia, NL/B/GB 1995, 96 Minuten, Drehbuch und Regie: Marleen Gorris)

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dunkler Stube beisammen sind, so heißt es am Anfang eines Gedichts von Gustav Schwab. In „Antonias Welt“ müsste es eher heißen: in trauter Dumpfheit beisammen sind. Nicht zufällig sind alle vier Generationen und die aufgebahrte Leiche der Ururahnin am Anfang des Films weiblichen Geschlechts. Obwohl der Film mit tiefgehenden Sprüchen über das menschliche Sein, gelegentlich Schopenhauer zitierend, als ein über das Leben aufklärendes Werk auftritt, spielt das männliche Geschlecht in diesem Film nicht die natürliche Partnerrolle, sondern bloß eine Antirolle, vertreten durch einen zu zurückhaltenden verwitweten Bauern, einen noch schüchterneren Liebhaber, der nie aktiv wird, obwohl die Frau seiner Träume im selben Haus über ihm wohnt, einen jungen Leihvater, der sich für die junge Frau nicht interessiert, die sich von ihm ein Kind machen lässt, einen Wüstling im Pfarrerhabit, einen brutalen Vergewaltiger in Armeeuniform, einen entsprungenen Kaplan und einen alten Büchernarr, der nur noch reiner Geist ist, kopfschüttelnd feststellt, dass es unsinnig ist, Kinder in die Welt zu setzen, weil das Leben doch bloß eine schreckliche Zumutung ist, und sich schließlich aufknüpft.

Der Film ist im Jahre 1995 entstanden. Da lag die Zeit der Kriegshelden weit zurück, und auch die Aufbauhelden der Nachkriegszeit waren längst vergessen. Für die Filmemacherin galt offenbar nur noch die Frau, und das in den kuriosesten Varianten, die der Film uns vorstellt. Die selbstbewusste Antonia, das reife Vollweib, das nach zwanzig Jahren mit der schon erwachsenen Tochter Danielle ins Heimatdorf zurückkehrt, um ihre Mutter zu Grabe zu tragen, ist nach wie vor die tatkräftige Macherin. Antonias Tochter dagegen ist in die Malerei ausgewichen, will ein Kind haben, aber keinen Mann, was sich als machbar erweist. Sie bekommt ein Töchterchen, das sich schon früh als ein mathematisches und musikalisches Genie entpuppt, sich oft sagen lassen muss, es sei nicht normal, sich aber gern als Wunderkind bestaunen lässt. Die Tochter des Genies schreibt schließlich die Geschichte der Weiberfamilie und des Dorfes auf. Darin spielt auch die unglückliche junge Frau ihre Rolle, die bei Vollmond am offenen Fenster zu stehen und den Mond laut anzubellen pflegt. Mit viel Verständnis werden geistig debile Menschen hingenommen. Herzlich aufgenommen wird auch die zugezogene Fremde, die nur immer schwanger sein und Kinder gebären will und zufrieden mit diesem produktiven Leben über der Geburt ihres dreizehnten Kindes stirbt. Und die Lehrerin des Dorfes ist genauso zufrieden in der lesbischen Beziehung zu der Malerin.

Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts drehte man die Spielfilme immer noch in erster Linie fürs Kino. Deshalb muss die Frage erlaubt sein: Was spielte sich in den Köpfen des Kinopublikums ab, wenn es sich nach der Vorstellung auf den Heimweg machte? Als Antwort drängt sich auf: Frauen hatten die Möglichkeit, sich als viel zu stinknormal schwere Selbstvorwürfe zu machen oder aber sich in ihrer Besonderheit bestätigt zu fühlen. Männer dagegen mussten einsehen, dass sie der letzte Dreck sind und völlig überflüssig. Das ist ganz sicher nicht das Ergebnis eines Kinoabends, wie man es liebt.

Das Beste an diesem Film – neben der überzeugenden Hauptdarstellerin Antonia – sind die Szenen, in denen eine bloße Vorstellung, durch verträumte Augen angedeutet, zur Handlung wird. Auch das zweite Gesicht ist also eine der zusätzlichen Stärken des weiblichen Geschlechts. Wunderschöne Überraschungen, leider viel zu selten.

Kein Zweifel, dieser Fünf-Generationen-Streifen, ein Vorläufer der Familienserien von heute, ist recht unterhaltsam, wenn auch erstaunt, wie zurückhaltend, ja, beinahe ängstlich die Sexszenen gedreht sind, im Gegensatz zu den unnötig ausführlichen Beispielen von Gewalt. Fast ist man versucht, daraus das Fazit zu ziehen: Für die emanzipierte Frau sind Nacktheiten so peinlich, wie ihr Brutalität gefällt, vor allem, wenn sie sich gegen Männer richtet.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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