Annie Ernaux: Der Platz

 

Ein Klassen-Buch

(Annie Ernaux: Der Platz, aus dem Französischen von Sonja Finck, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019, gebunden 95 Seiten, ISBN 978-3-518-22509-7, die Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel La Place bei Gallimard, Paris)

Der Titel des Buches ist sinnlos. Es hätte heißen müssen: Mein Vater. Es hätte auch heißen können: Mein Vater und ich. Oder noch einfacher: Das Leben. Die Autorin zeichnet ihren Vater als einen Unterlegenen, der sich seiner Herkunft, seiner Armut und seiner Unbildung bewusst ist. Immerhin hat er es nach einigen Umwegen mit Fleiß und Bescheidenheit geschafft, in dem Dorf, in dem er mit seiner kleinen Familie lebt, einen Kolonialwarenladen mit angeschlossener Kneipe aufzumachen. Einen Kümmerbetrieb, in dem Vater und Mutter ihr Leben vertun.

Diesen kleinen Aufstieg aus dem untersten Rang der Habenichtse in den nur ein wenig angehobenen Status des Beinahe-Kapitalisten beschreibt seine Tochter im Rückblick in schlichten Kurzsätzen. Wenn man diesen Bildzeitungsstil nicht sogar als die Sprache der literarischen Moderne bezeichnen will. Ein auffällig bemühtes Fortlassen aller Wörter, die den Text redundant erscheinen lassen könnten. Keine Girlanden, kein Blumenschmuck, kein Wetterleuchten. Nur Armut.

Für die Schilderung des Vaters, gelegentlich auch ein wenig der Mutter, ist die Kargheit der Sprache unbedingt passend. Nicht so für die Autorin, die durch Einschübe mit ihren Überlegungen zur Schreibweise verrät, wie gebildet sie ist. Doch lässt sie die Gegensätze so aufeinander treffen: Der Vater mit seinem gelegentlichen normannischen Patois, sie mit ihren gelegentlichen Bemerkungen sprachkritischer Art. Damit kennzeichnet sie nicht nur zwei grundverschiedene Bildungsebenen, sie lässt damit auch das Gesetz der armseligen Kurzsätze, dem sie sich unterworfen hat, absurd erscheinen. Auf Seite 75 erklärt sie, warum sie sich in ihrem Stil der einfachen Sprache ihrer Eltern und der ganzen Umgebung anpasst: „Ich antwortete in demselben nüchternen Ton. Sie hätten jedes Bemühen um Stil so empfunden, als wollte ich sie auf Distanz halten.“ Was hier als notwendige Anbiederung entschuldigt werden soll, kann aber auch als Geschäftstüchtigkeit gedeutet werden. Macht die Autorin es mit ihrer Selbstbeschränkung doch sowohl den Kritikern als auch einem breiteren Lesepublikum leicht, ihren Text zu goutieren. Ein Erfolgsrezept für Schriftsteller.

Bei aller Zurückhaltung gelingen ihr auch schöne Schilderungen. So etwa beim Thema Nachbarschaftskontrolle oder bei der ständigen Angst der Dörfler: Was sollen die Leute denken? Oder bei dem Bemühen des Vaters, nur ja nicht wie ein Bauer zu erscheinen. Da scheint er ganz selbstverständlich wieder auf, der letzte Stand der mittelalterlichen Gesellschaft, der Bauer. Die Dimension der Tiefe. Und die Klischees zu zitieren, kursiv gesetzt, mit denen die kleinen Leute ihr Leben in den Griff zu bekommen versuchen, ist eine geschickte Art der Illustrierung.

Die Schlichtheit dieser kleinen Erzählung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier eine Könnerin am Werk ist. Schon der Rondo-Effekt mit dem Sterben des Vaters am Anfang und am Ende des Buches ist eine gewichtige Aussage über das Leben. Genau wie der kurze und in seiner Kuriosität irritierende Auftakt mit der Prüfung der Autorin für den höheren Schuldienst. Mein Resümee: Dieses klassenbewusste Buch ist durchaus Klasse.

(Walter Laufenberg in: Netzine.de)

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