Anna Karenina

(Anna Karenina, England/Frankreich 2012, 130 Minuten, Regie: Joe Wright, Drehbuch: Tom Stoppard nach dem gleichnamigen Roman von Lew Tolstoi)

Schon die sechste Verfilmung des neben „Krieg und Frieden“ zweiten Groß-Romans von Lew Tolstoi (1828-1910). In den Jahren 1875-1877 als Erzählung in Fortsetzungen in der russischen Zeitschrift „Russkij vestnik“ erschienen, schildert der Roman die russischen Verhältnisse in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts.

Zunächst ein kleiner Wehrmutstropfen. Man vermisst den berühmten ersten Satz dieses Romans: „Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Doch ist und bleibt das Literatur. Eine Präposition vor der eigentlichen Präposition der Erzählung, in der es um drei Familien geht, die durch Leidenschaft und Vorurteile, durch Ehebruch, gesellschaftliche Rücksichten sowie moralische Bindungen in ein Geflecht von Beziehungen geraten, das sie in ihren Grundfesten erschüttert.

Der Film braucht Bilder und keinen resümierenden Vorspruch. Deshalb fehlt der erste Satz des Romans. Und mit Bildern verwöhnt dieser Film. Er versetzt einen in eine faszinierende Welt voller Menschen und Räume, die so prächtig aufgemacht sind, wie man das heute nicht mehr kennt. Was sich aber schnell als bloße Aufmachung verrät. Womit das Erlebnis nur umso stärker wird, wenn man sieht, wie Anna Karenina, die schöne Schwester des Fürsten Oblonski und Ehefrau des angesehenen Ministerialbeamten Alexej Karenin, sich von dem jungen Offizier Graf Wronski verführen lässt. Ihr Mann versucht vergebens zu retten, was nicht mehr zu retten ist, und stürzt sich dann in einen blinden Hass auf seine Frau. Anna werden ihre beiden Kinder genommen, sie verfällt der gesellschaftlichen Ächtung. Gleichzeitig zeigt sich bei ihrem Verführer ein so natürliches wie erschreckendes Nachlassen des Interesses an der Frau, die sich ihm voll ausgeliefert hat. Da ist die Katastrophe unvermeidlich.

Der Roman „Anna Karenina“ gehört zu den Spitzenwerken der neuen psychologisierenden Literatur, die mit der Entwicklung der jungen Wissenschaft von der Psychologie parallel läuft. Er ist also neben anderem auch ein historisches Dokument. Doch warum wird uns das heute serviert, fünf Generationen später und in einer Welt, die sich total verändert hat? Die moralischen Bindungen sind aufgeweicht, gesellschaftliche Rücksichten weitgehend als lächerlich abgetan, Leidenschaft wird als naturgegeben hingenommen, Vorurteile werden als Dummheit belächelt, und der Begriff Ehebruch ist ins Museum abgeschoben geworden.

Um sich von den überholten gesellschaftlichen und religiösen Skrupeln des 19. Jahrhunderts und speziell des religiösen Fanatikers Lew Tolstoi, die heute keine Tränen und keinen Wutanfall mehr auslösen können, zu distanzieren, hat der Film einen genialen Trick angewandt. Er hat darauf verzichtet, alles realistisch darzustellen, was an sich seine Stärke ist, und hat stattdessen alles auf die Theaterbretter verlegt. Was durchaus zu dem Roman passt, in dem schon auf der zweiten Seite eine der Hauptfiguren aus dem Theater kommt. Im Film fahren sogar die eisverkrusteten Züge auf der Bühne, und Pferde machen ihr Rennen auf derselben Bühne, die Akteure steigen aus dem Keller auf die Bühne oder verschwinden auf dem Schnürboden im Arbeitermilieu. Kaum merkliche Übergänge von der Verfilmung eines Bühnenstücks auf Filmaufnahmen der vertrauten Art. Und wieder zurück. Alles nur Theater. Deshalb bitte nicht ernst nehmen. Das ist die Aussage dieses ungewöhnlichen Kunstgriffs. Das ist gleichzeitig eine überzeugende Methode der filmischen Literarisierung eines literarischen Stoffs, wie man sie so noch nicht gesehen hat.

Man stellt sich jedoch die Frage, warum die beiden Hauptfiguren so betont anders besetzt wurden als die Figuren bei Tolstoi geschildert werden. Die verführerische Anna hat überhaupt nichts Verführerisches an sich, nicht einmal Busen. Also nichts mit ziemlich fülliger Körper, wie Tolstoi schrieb. Und ihr Verführer ist anders als im Roman kein großer, kraftvoller Mann, sondern ein viel zu junges fipsiges Kerlchen. Das kann kein Versehen sein, diese Besetzung muss Absicht sein. Also muss man sich darauf seinen Reim machen. Der könnte sein: Der Film soll nicht zuviel Sympathie der Betrachter auf diese beiden Figuren ziehen, weil sie dann nicht mehr problematisch sind in dem, was sie tun. Ist uns Heutigen doch der gesellschaftliche Komment genauso Wurscht wie die religiöse Problematik des Ehebruchs, was beides für Tolstoi noch gewaltige Hindernisse waren, die sich vor den illegal Liebenden auftürmten. Deshalb musste Tolstoi diese beiden Figuren noch besonders attraktiv zeichnen, weil sie sonst nicht über ihren Schatten gesprungen wären, und deshalb muss ein Film von heute diese beiden Figuren besonders belanglos zeigen, fast schon als eine Mesalliance, um nicht von anderen Aussagen abzulenken.

Doch wozu überhaupt heute, im 21. Jahrhundert, so ein Ehebruchsfilm? Weil uns die Probleme von damals längst nichts mehr sagen, kann so eine aufwendige Filmproduktion ihre Rechtfertigung nur darin finden, dass der Film ein Porträt eines der Großen der Literatur ist, und in diesem Fall sogar ein Doppelporträt. Nur als solches ist dieser Film wichtig. Der äußerlich unattraktive Gutsbesitzer Kostja Llewin, der etwas für seine Mitmenschen übrig hat, der so hart arbeitet wie seine Arbeiter und allem modischen Firlefanz abholt ist, muss als ein Selbstporträt Lew Tolstois gesehen werden, der auf seinem Gut Jasnaja Poljana lebte und sich mit seinen Untergebenen in christlichem Verständnis verbunden fühlte. Die Anna Karenina ist ebenfalls er selbst, aber nur in seiner Vorstellung von einem anderen Leben, das er gern leben würde. Ein Leben ohne die strikte Bindung an die herrschende Moral, der Leidenschaft hingegeben. Ein Leben, das er aber nicht leben kann. Jetzt nicht mehr, anders als zu seiner Zeit als junger Student. Deshalb hat er diesen heimlichen Lebenswunsch in eine weibliche Person projiziert. Das ist das Sublimat seines persönlichen Aufstandes. Er hat erfunden und beschrieben, was er nicht haben und erleben kann. Das ist sie, die grenzenlose Freiheit des Dichters. Als der alte Lew Tolstoi schließlich in der Wirklichkeit seinen Aufstand versuchte, die Flucht in den Süden, war er schon zu alt und zu schwach und blieb deshalb auf nicht einmal halber Strecke mit dem Zug liegen, um in dem kleinen Bahnhof Astopowo an einer Lungenentzündung zu sterben. Nicht zufällig nutzt der Film die Pleuelstangen der Lokomotive mehrfach als Handlungsscharniere.

Der Meister des realistischen Romans, Lew Tolstoi, hatte mit diesem dummen Versuch, in der Realität auszubrechen, das heißt den vielen Verpflichtungen des Gutsherrn und Familienoberhaupts und Geistesheros davon zu laufen, den Dichter mit seinen überlegenen Möglichkeiten jenseits des Realen verraten. Dafür war der Bahnhofstod als „Todesstrafe“ angemessen.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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