Andrea Maria Schenkel: Tannöd

Experiment gelungen

(Andrea Maria Schenkel: Tannöd, Kriminalroman, Edition Nautilus, Hamburg 2005, 126 Seiten, 12,90 €)
Nicht zu übersehen: Der ungebremste Ehrgeiz der Krimiautoren macht Deutschland zum Land der Massenmörder – und damit den tatsächlichen Verhältnissen in den USA unfaire Konkurrenz. Gerade erst hat sich Craig Russel einen Orden der Hamburger Polizei, einen Polizeistern, damit verdient, dass er sieben Morde in einem einzigen Kriminalroman („Wolfsfährte“) untergebracht hat. Chapeau!
Anna Maria Schenkel bringt es in dem vorliegenden Kurzroman immerhin auf sechs Morde, die innerhalb von weniger als einer Viertelstunde absolviert wurden. Aber das ist nicht der Grund für die Beschäftigung mit diesem Buch. Auch nicht allein die Tatsache, daß es mit dem Krimipreis des Jahres 2007 ausgezeichnet wurde. Gratulation!

„Tannöd“ ist lesenswert und damit auch einer Besprechung würdig, weil die Autorin mit diesem Erstlingswerk zeigt, wie belesen sie ist. Mit erstaunlicher Sicherheit hat sie die Reportageform gemeistert. Bloß eine kurze Andeutung auf der ersten Seite, und schon ist die Nachkriegszeit markiert, und die Autorin kann, ohne auch nur ein einziges Mal selbst aufzutreten und eine Frage zu stellen, ihren Roman als einen erfrischend lockeren Erlebnisbericht servieren, gelegentlich sogar als eine Art Frage- und Antwortspiel.

Es geht um das, worum es schon bei den Dorfromanen eines Ganghofer ging, also Geiz und Engstirnigkeit und Rabiatheit und Mißgunst, um Ausbeutung und sexuelle Eskapaden. Wegen der Kürze des Romans soll hier zum Inhalt mehr nicht gesagt werden, weil sonst schnell zuviel verraten würde. Jedenfalls ist das Buch von Anfang bis Ende spannend, weil immer nur Andeutungen darauf hinweisen, dass etwas passiert ist, und weil etliche falsche Fährten gelegt werden. Nur soviel noch: Die Auflösung wird manche Leser enttäuschen. Außerdem fällt auf, dass die Bösen bei Andrea Maria Schenkel stets Männer sind, während die Frauen nur immer die Opferrolle zu spielen haben. Hier verrät die Autorin sich als eine moderne Frau, als Kind des Mainstreams.

Darüber hinaus erweist sie sich aber als fähig, ein bewährtes literarisches Stilmittel auf souveräne Weise dem Krimi anzupassen, nämlich die Zeichnung der Personen durch ihre Sprache. Man könnte sagen, dass sie es damit übertreibt. Aber das wäre eine Fehldeutung. Zugegeben, es nervt, dass anfangs lange Passagen nur in der Sprache von Kindern oder von schon halbwegs weggetretenen Alten gebracht werden. Aber das ist nur konsequent. Und wenn sie mit derselben Methode später den Pfarrer oder den Bürgermeister karikiert, wird es sogar lustig. Die Autorin verzichtet auf jede andere Personenzeichnung zugunsten der sprachlichen. Das Ergebnis ist eine von Kapitel zu Kapitel wiederholte, je nach dem dargestellten Typ variierende Schablonensprache. So einfältig wie einfallsreich, wie da mit allen sprachlichen Klischees des Dorfalltags und des Kleine-Leute-Milieus beziehungsweise der arrivierten Funktionsträger erzählt wird. Und doch bleibt, was man zu lesen bekommt, nur Schablonensprache. Satz für Satz so kurz und penetrant wie die Sprache der Bildzeitung, in der man genau so selten auf einen Nebensatz stößt, wie in diesem Buch.

Ist der Kriminalroman im allgemeinen die Verselbständigung und Übertreibung des Spannungselements, was seine Stärke wie Schwäche ist, haben wir es hier mit einem anderen alten literarischen Stilmittel zu tun, das sich verselbständigt. So oder so Einseitigkeit.

Das kennen wir aus der Geschichte des Spielfilms, dem Bruder des Romans. Wegen der Ähnlichkeit dieser beiden Kunstformen muß ein Vergleich erlaubt sein. Die Entwicklung des Kinofilms wurde begleitet von Experimentalfilmen, die immer mal wieder eine neue Technik entdeckt und ausgiebig vorgeführt haben. Mal war das beispielsweise die bewegte Kamera, mal die Vermeidung des Schnitts oder die krasse Unterperspektive, dann waren es bestimmte Tricks. Auffällig war: Jeder Experimentalfilm pflegte seine neue Errungenschaft zu übertreiben, wurde dafür aber von Cineasten bestaunt und gelobt. So wurde der Experimentalfilm immer wieder zum Wegbereiter für Spielfilme, die dann das große Erlebnis brachten, indem sie die neuen Techniken in ausgewogenem Verhältnis zu Bewährtem einsetzten.

Der Kurzkrimi „Tannöd“ ist als ein Experimentalkrimi zu sehen, der den großen Kriminalroman einen Schritt weiter bringt auf dem Weg zum literarischen Ereignis. Ein Verdienst, das nicht unterschätzt werden sollte. Ist es diesem Buch doch bei aller Kürze gelungen, sogar ein Lesevergnügen zu sein.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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