Als Förderer Lettlands unterwegs (2010)

Riga ist stolz auf sein Wahrzeichen: Die als kecke Nadel in den nordisch wolkigen Himmel stechende Fernsehantenne. Genau so ein Demonstrationsobjekt wie beispielsweise der Fernsehturm am Alexanderplatz in Berlin. Doch wenn ich mich frage, für was diese Bauwerke stehen, dann muss ich zugeben: Für die totale Fremdsteuerung des Bewusstseins. Deshalb nennt man sie mit Recht Wahr-Zeichen.


Von der Hauptstadt Riga nach Ventspils an der Ostseeküste geht es nur über die Straße Nr. 10, die den Linienbus in drei Stunden ans Meer führt, in vielen Windungen und über noch vielmehr provisorisch geglättete Schlaglöcher. Dabei kreuzt man ein halbes Dutzend Mal die Bahnlinie, die zielstrebig den direkten Weg nimmt, auf der aber nur noch Züge fahren, die russische Kohle und russisches Erdöl zum Hafen von Ventspils bringen. Der Personenverkehr ist vor Jahren eingestellt worden. Zu wenige Passagiere, weil im neuen Jahrhundert mit dem aufkommenden Wohlstand das eigene Auto zum Lieblingspopanz wurde.
Rappelbusfahren, das bedeutet für mich: Zuviel Zeit, mich in die Landschaft hineinzubohren. Auf diesem grauen Schnürchen, das ein grün angestrichen wirkendes Flachland in ein Rechts-Nichts und Links-Nichts teilt. Dann auf einmal ist da wie dort Jungwald. Nichts mehr zu sehen als Bäume, Bäume, Bäume, Bäume. Klar, Holz soll ein Hauptexportprodukt Lettlands sein. Nur hin und wieder ein Schild mit einem Ortsnamen, einem noch nie gelesenen Wort, wie aus den beim Scrabbeln übriggebliebenen Buchstaben kühn zusammengeschustert. Das Schild weist in einen Weg hinein. Hinterm Wald sind also menschliche Siedlungen zu vermuten

Wo die Landschaft sich einmal öffnet, erscheinen einzelne Uralt-Katen aus Bruchstein und verwittertem Holz, Ensembles wie von Pieter Bruegel gemalt. Nur dass die Menschen mit ihren klobigen Schuhen fehlen. Stattdessen stelzenbeinige Birken, die mit ihren grau-weiß geringelten Strumpfhosen dastehen wie Anhalterinnen oder Strichmädchen. Aber immer in Grüppchen, als machten sie sich wechselseitig Mut. Da muss ich wegschauen. Ein Tümpel lenkt mich ab. An seinem Ufer zu sitzen und zu angeln, ja, das wäre ein Erlebnis. Wenn nur nicht die Gefahr wäre, dass ein Fisch anbeißt. Denn was tun mit dem armen Tier? Ich frage den Himmel, aber der ist bloß ein mir und allem übergestülpter riesiger Grautopf.

Dawei, dawei! Das waren die ersten Wörter in der Fremde, die ich zu hören bekam. Sie sollten auch das einzige bleiben, das der kleine rundliche Fahrer von sich gab, den ich gleich nach dem Losfahren im zentralen Bus-Bahnhof heftig winkend gestoppt hatte. Er hatte keine Lust, noch einmal auszusteigen und meinen schweren Koffer im Laderaum zu verstauen. Ich musste ihn mit in den Bus nehmen, der zum Glück kaum halbvoll ist. Auf halber Strecke hält der Bus bei einer größeren Hütte an, wohin die Fahrgäste dem Fahrer eilig folgen. Die Baracke ist ein Restaurantchen. Der Fahrer lässt sich als erster in der Schlange einen Teller mit reichlich Kartoffeln und Gemüse und Fleisch füllen. Alle anderen, so auch ich, nehmen nur Kleinigkeiten, um mit dem Essen fertig zu sein, wenn der Fahrer zur Toilette geht und zurück zum Bus, wo er sich auf seinen Sitz schwingt und den Motor anwirft. Wieder hinein ins Überallholz.

Zwischen Bibliothek und Internet-Zentrum das Schriftstellerhaus

Zwischen Bibliothek und Internet-Zentrum das Schriftstellerhaus

Dabei bemüht sich Lettland nicht nur um die Rohstoffproduktion. In dem hübschen lettischen Zentrum der Holzveredelung, dem Internationalen Schriftsteller- und Übersetzerhaus Ventspils, lerne ich durch den Übersetzer von Anšlavs Eglitis das Riga der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts kennen. Mir wurde, schon mehr als ein Jahr zuvor, von diesem Haus auf schönem Briefpapier als literarische Auszeichnung ein einmonatiges Stipendium von 300 Lats (ca. 450 €) mit kostenlosem Apartment für Juni 2010 verliehen. Verständlich, ist Deutschland doch der wichtigste Handelspartner Lettlands. Überglücklich kaufte ich mir ein Flugticket. Jedoch kam wenige Wochen vor meinem Start eine E-Mail: Wegen der Wirtschaftskrise müssen wir fragen, ob Sie eventuell auf das Geld verzichten könnten. Meine Antwort: Habe volles Verständnis und verzichte auf das Geld. Eine Woche später erneut eine E-Mail: Wir sind so knapp dran, können deshalb das Apartment nicht mehr kostenlos bieten, müssen für den Monat 100 € nehmen. Meine Antwort: Volles Verständnis, ich gebe Euch gleich bei meiner Ankunft die 100 € in bar. Doch kaum angekommen, hieß es: Nein, Barzahlung geht nicht, Vorschrift ist: Bei der Bank 80 Lats (ca. 120 €) einzahlen. Habe ich gemacht, musste dort aber noch 2 Lats (ca. 3 €) Kommission zahlen. Also hat sich Lettland von mir mit insgesamt 573 € beschenken lassen. Ein deutscher Schriftsteller als Förderer Lettlands, wenn das keine tolle Auszeichnung ist.

In Ventspils überraschen zunächst Häuser mit über und über recht ungewöhnlich gestalteten Fassaden. Das muss moderne Kunst sein, was sich da wild in Weiß über die Wände schlängelt, verstehe ich, komme dann aber auf den Einfall, das könnte eine Art Tarnanstrich sein. Für strategisch besonders wichtige Gebäude. Erst aus der Nähe zeigt sich das weiße Geschlängel als mühevolles Reparaturwerk, nicht schön, aber wohl gut gegen den Seewind, der sich durch alle Ritzen im maroden Mauerwerk drängt.

Blumenkinder

Blumenkinder

Die Stadt Ventspils besteht aus vielen liebevoll gepflegten Parkanlagen mit phantasievoll beschnittenen Hecken und Sträuchern, dazu Denkmälern und witzigen Steinkunstwerken, aus Wasserspielen und überreich bestückten Kinderspielplätzen. Hier zeigen sich wunderschön restaurierte Häuser und prächtige Neubauten sowie hervorragend gepflasterte Straßen, manche sogar aus Rosengranit. Doch dazwischen und daneben und immer wieder wie Ruß ins Auge geratend all die total heruntergekommenen Bürgerhäuser und Firmensitze einer besseren Zeit, die mehr als 70 Jahre zurückliegt. Die beste Zeit, das verraten die Jugendstilruinen, war um 1900. Was Riga nach gründlicher Restaurierung den besonderen Charme einer einzigartigen Jugendstilstadt verleiht, hier im Abseits treibt es einem die Tränen in die Augen. Schlimm anzusehen, wie auch die betagten Holzhäuser, die allen Charme des Alters verloren haben, kaum noch mit vorgenagelten Brettern und mit umgehängten Netzen zusammengehalten werden. Überall die leeren Fensterhöhlen, die weggebrochenen Ecken und die zerbröckelten Grundmauern.

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Lettland

Überdeutlich: Nach der Zeit unter kommunistischer Herrschaft, in der alles ungestört vor sich hin altern durfte, als hätten die Jahrzehnte aus ideologischen Gründen eine Null mehr angehängt bekommen, kamen im neuen Jahrhundert die Jahre eines neuen Selbstbewusstseins, das sich mit frischem Geld und Ehrgeiz daran machte, aus der verkommenen wieder eine bewohnbare Stadt zu machen. Man hatte einen Bürgermeister, der wusste, wie man Geldquellen anzapft. Er setzte die Gelder großzügig zum Aufbau einer modernen Kleinstadt ein, solange man ihn als Quasi-Landesfürst schalten und walten ließ. Einerseits riesige Sportanlagen und eine grandiose Schwimmbadlandschaft, andererseits aber auch zwei supermoderne Großbibliotheken. Dann plötzlich die neue Weltwirtschaftskrise, die auch in Lettland alle Kassen leerplünderte und alle Aufbauarbeit stoppte. Schluss mit lustig.

Restaurationsprojekte müssen sich nun damit abfinden, Projekte zu bleiben. Dabei helfen der Stadt die vielen alten Bäume, meistens Linden und Kastanien, die alles in ein wollüstiges Grün verpacken. Auffällig, wie sich die Bilder in den ehemaligen Ostblockländern gleichen. Auch das Baumgewucher ist ein typisches Kennzeichen von Jahrzehntelanger Herrschaft des Sozialismus: Wer hätte sich denn um die alten Bäume kümmern sollen? Sie beschneiden und darauf achten, dass sie nicht zu einer Gefahr für die Menschen und ihre Behausungen werden. Man hatte doch Wichtigeres zu tun. Gleich hinter dem Marktplatz, an einer noch recht gut erhaltenen Villa mit Park und altem Baumbestand – möchte man glatt kaufen – erschreckt mich ein kleines Schild, das sagt, in diesem Haus habe der russische Geheimdienst die Menschen erniedrigt und gefoltert.

Kohlebunkern im Hafen von Ventspils

Kohlebunkern im Hafen von Ventspils

Das älteste Gebäude der Stadt ist die aus dem 13. Jahrhundert stammende Burg des Deutschritterordens, jetzt verschämt als Ordensburg des livornischen Ordens bezeichnet. Mit den frühesten Eroberern und Kultivierern des Landes will man sich nicht identifizieren. Die Burg, vielfach umgebaut und viel zu lange fürs Militär und als ein Gefängnis missbraucht, schließlich mit erstaunlichem Aufwand modernisiert, beherbergt heute das Stadtmuseum, in dem nicht viel zu sehen ist, dafür aber Kurioses, so die Sammlung von Uniformmützen aus vielen Ländern im Osten und Westen. Die einzige deutsche Beschriftung, die es in diesem Museum gibt, steht über dem niedrigen Eingang in die prähistorische Sammlung: Bitte passen Sie auf Ihren Kopf auf! Offenbar glaubt man, wir Deutschen würden besonders leicht den Kopf verlieren.

Dem recht ruhigen Hafen der alten Hansestadt – Kohle und Öl sind wortkarge Reisende – gibt wenigstens die Scandlines-Fähre ein imposantes Aussehen, die über die Ostsee nach Travemünde fährt. Aber auch russische Frachter bieten dem Auge inzwischen mehr als Rost.

Kompliment, liebe Bürger von Ventspils, Ihr habt nicht nur viel Wind, weshalb Ihr die Stadt einmal Windau genannt hattet, Ihr habt auch mehr Parkanlagen als Hunde. Bei uns daheim ist das leider umgekehrt. Das stinkt mir. Und noch etwas habt ihr im Überfluss: Bei der Suche nach einem für die Stadt typischen Souvenir, das ich mit nachhause nehmen könnte, schien mir das schönste Mitbringsel ein freier Parkplatz. Davon gibt es hier unendlich viele.

Zur selbstverständlichen Ausstattung von Restaurants, die auf gemütlich machen, gehören stapelweise Bücher. Dabei dauert der Service durchaus nicht so lange, dass man ein ganzes Buch lesen könnte. Und man bleibt auch nach dem Essen nicht lange hocken, das verhindert schon die zu laute Musik. Im Restaurant an einem Tisch zu sitzen, auf dem ein beleuchteter Globus steht, das ist schon ungewöhnlich. Ich drehe die Kugel, und sie quietscht und eiert. Was mich aber nicht wundert, wenn ich sehe, wie ungleichmäßig die schweren Landmassen verteilt sind, mit diesen riesigen Wasserlöchern zwischen ihnen. Wer hat nur so was gemacht?

Blumen, Blumen über alles

Blumen, Blumen über alles

Der Wochenmarkt findet hier nicht wie bei uns einmal oder zweimal in der Woche statt, sondern jeden Tag. Der halbe Markt besteht aus einem bunten Überangebot von Blumen und Pflanzen. Und diese Üppigkeit wird auch gekauft und heimgeschleppt. Für die Leute von Ventspils kann es offensichtlich gar nicht blumig genug hergehen. Auf zwei steinernen Extratischen liebevoll aufgebaut und diebstahlsicher verankert alte Hohlmaße in Edelstahl neben Kürbissen in Stein als Gewichtsbeispielen. Ich ziehe mit den Einheimischen von Stand zu Stand, wo es Obst gibt und Gemüse, Textilien und Schuhe. Und das alles für den Besucher zu Spottpreisen. Schicke Rentnerwesten mit viel sportlichem Schnickschnack für unter 10 Euro, dazu passend die Supersporthosen für 15 Euro und Turnschuhe oder Sandalen ebenfalls in diesen Preislagen. Wer kann da noch widerstehen. Nur dass die Verkäuferin mir hinter ihrem überladenen Tisch ein Stück Plastik auf den Boden legt, auf das ich mich zum Anprobieren der Hose stellen soll, lässt das profitable Geschäft nicht zustande kommen.

Juni-Wind. Daheim packt er jetzt wieder meine Straße üppig in weiße Watte aus Pappelsamen, hier treibt er sein wildes Spiel mit den hellen Blütenblättchen der Linden und Kastanien, die durch die Straßen fegen und ihre Botschaft in jedes offene Fenster werfen: In Windau wird es wieder Sommer. Oder sprechen auch die Bäume schon Lettisch und sagen Ventspils?

Mit dem Linienbus über Kuldiga, dem ehemaligen Goldingen, nach Liepaja, dem ebenso ehemaligen Libau, das ist schon wieder eine Rüttelfahrt von drei Stunden, die aber Überraschungen bietet. Wenn das auch vor allem Fragen sind. Etwa: Wo sonst, wie hier südlich von Ventspils, sieht man soviel ungenutztes Brachland? Wild wucherndes Grün bedeckt den flachen Grund wie ein dicker Teppich. Da möchte man eine Kuh sein. Aber warum ist keine Kuh weit und breit zu sehen? Fehlt es an Geld für Weidezäune? Und warum sind hier nicht die Gemüsebauern auf den Feldern, die für die Stadtbewohner den Rücken krumm machen? Stattdessen Storchennester auf den hölzernen Telefonmasten mit den nostalgisch anmutenden Porzellanpüppchen.

Erst als wir uns Kuldiga nähern wieder die glattgestrichene Langeweile von sogenanntem Kulturland: Getreidefeld, Heuwiese, Kartoffelacker, auch einmal die grelle Helle von Raps. Und einzelne Gehöfte, die schon vom Urlaub auf dem Bauernhof träumen lassen. Dazwischen immer wieder große Placken von Jungwald. Kiefernbestände, da steht man dünn und eng beieinander, und ein Baum sieht wie der andere aus, halt jung. Wird man hier nicht alt? Die stolzen Kiefern, stockgerade wie die langen Kerls des Preußenkönigs, antworten: Wir sind hier angetreten als Jugend zum Abholzen, zum Verbrauchen, denn wir sind Nutzholzwälder.

Alte Markthalle in Liepaja

Alte Markthalle in Liepaja

Da zeigt sich Liepaja doch auf ganz andere Weise jung. Sogar in der schmucken alten Markthalle. Vergessen die Festungsanlagen von Zar Peter dem Großen. Das Meer hat sie schon weitgehend verschluckt. Noch nicht vergessen, doch halbwegs verrottet die Bauten der sowjetischen Besatzungszeit. Die Leute laufen geschäftig über da und dort in das Gehsteigpflaster eingelassene einzelne silbern blinkende Noten, und eine riesige Edelstahl-Gitarre spielt Denkmal, daneben Handabdrücke von Musikern in Bronzeplatten. Und viel Lärm, der aus dem Rockcafé quillt. Liepaja brüstet sich als die lettische Hauptstadt der Rockmusik, somit als ein Pendant zu Riga, der Hauptstadt des Gesangs.

Das Mitsommernachtsfest Ligo ist das höchste Fest im Jahr

Das Mitsommernachtsfest Ligo ist das höchste Fest im Jahr

Ein altes lettisches Volkslied feiert Liepaja als die Stadt, in der der Wind geboren wurde. Tatsächlich hatte der Bus mich kurz vor der Stadt durch ein schütteres Wäldchen von einem Dutzend modernen Windmühlen geführt. Ansonsten bleibt der Wind hier noch unbelästigt. Eine freie Ressource, verspielt und lästig wie ein Haufen wilder Kinder. Aber der Wind ist zukunftsträchtig, da kann ich sicher sein. Ist das Land doch voll von Banken und Bankautomaten.

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