Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1954

Die Kladde der Probleme

(Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1954, Edition der Arno-Schmidt-Stiftung im Suhrkamp-Verlag, Bargfeld 2004, gebunden 334 Seiten, 38,- Euro)

In seinem ausführlichen Vorwort geht der Initiator der Stiftung, Jan Philipp Reemtsma, auf die Problematik der Publizierung des intimen Hintergrunds einer Person der Zeitgeschichte ein. Eine Problematik, die in diesem Falle noch verschärft wird durch den Umstand, dass nicht das Tagebuch eines Dichters veröffentlicht wird, sondern das seiner Ehefrau. Als Rechtfertigung dient Reemtsma der Hinweis, Alice Schmidt habe es sich zur Aufgabe gemacht, für den Dichter Arno Schmidt zu leben und zu arbeiten. Zudem erwähne sie immer mal wieder die Arbeit ihres Mannes an dem Roman „Das steinerne Herz“, und das neben diversen anderen literarischen Arbeiten, so dass sich ihr Tagebuch auch als Forschungsmaterial für Philologen eigne.

Doch es ist das nur das Problem Nr. 1, das einem aufstößt. Das Problem Nr. 2 springt einen an in dem Namen des Stifters Jan Philipp Reemtsma, untrennbar verbunden mit der Zigarettenmarke Reemtsma. Das heißt, es sind Drogengelder, die der Industriellenerbe für die Literatur einsetzt. Eine positiv zu beurteilende Form der Geldwäsche aus schlechtem Gewissen, vergleichbar der Wäsche der Dynamitgelder des Alfred Nobel durch die Nobelpreise. Und hat nicht auch Goethe fast sein halbes Leben lang von dem Geld gelebt, das sein Großvater mit dem Weinhandel verdient hatte? Also auch damals schon Drogengelder, die der Literatur gedient haben. Nehmen wir das also als gute Tat hin.

Das Problem Nr. 3 ist die Lesbarkeit. Die Autorin hat kein erzählendes Werk schaffen wollen, sondern einen mehrschichtigen täglichen Wetterbericht. Der besteht aus Kürzeln und Symbolen zum Wetter draußen, aus unzusammenhängenden Notizen zu ihrem Gemütszustand und dem ihres Mannes, also dem Ehewetter, sowie der Großwetterlage. Die zeigt sich in Anmerkungen zu den Reaktionen der Umwelt auf sie beide beziehungsweise beider Reaktionen auf Kontakte mit der Umwelt. Diese Umwelt besteht anfangs vor allem aus der Vermieterin und weiteren Nachbarn, im weiteren Verlauf treten immer mehr andere Autoren in den Vordergrund sowie Verlage. Der dreifache Wetterbericht ist überbröselt oder homogenisiert durch die nie endenden Erwähnungen von diversen Katzen, Katern und Kätzchen mit ihrem Getue, ihren Bedürfnissen und ihren Krankheiten.

Im übrigen ist der Band ergänzt durch etliche aus der Tageszeitung ausgeschnittene Wetterberichte und Fahrkarten sowie etliche von Arno und Alice gemachte Fotos. Doch auch diese Illustrierung macht die Lektüre nicht so einfach, dass auf die vielen Fußnoten verzichtet werden könnte. Dennoch ist dieses Tagebuch streckenweise eine sehr aufschlussreiche Lektüre, vor allem wo die permanent bedrängten finanziellen Verhältnisse der beiden offengelegt werden und das ebenso ewige Gerangel mit Verlegern und Herausgebern sowie die das kleinkarierte Leben im Abseits begleitenden politischen Ereignisse. Alles andere jedoch ist mehr oder weniger eine Zumutung, und man ist geneigt zu sagen: Weniger wäre mehr gewesen, das heißt, mit einer auszugsweisen Publizierung des Tagebuchs hätte man mehr Leser erreicht und ihnen auch mehr geboten.

Der interessierte Literaturfreund quält sich trotzdem durch den Band, schon um dem verehrten Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979) nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn der Mann, auf dessen pessimistische Grundhaltung immer wieder gern hingewiesen wird, hat schon früh seinen Vater verloren, hat beide Weltkriege erlebt, seine Soldatenzeit als Gezogener und seine Kriegsgefangenschaft durchlitten und überlebt und schließlich auch noch die Vertreibung aus dem Osten und berufliche Verlegenheitsarbeiten.

Man muss sich einmal klarmachen, mit welchem Mut der noch völlig unbekannte Arno Schmidt schon Ende 1946 beschloss, zukünftig als freier Schriftsteller zu leben. Die bewusste Entscheidung zu einer Existenz als Hungerleider, zu der er und die Frau, die er neun Jahr zuvor geheiratet hatte, sich durchgerungen hatten. Ein Leben aber auch der intensiven Zusammenarbeit. Arno hatte mit Alice kein Liebchen neben sich wie Heinrich Heines Mathilde oder Goethes Christiane, diese beiden Dichterfrauen, die bei aller Verehrung ihres Meisters kein einziges Buch von ihm gelesen haben. Alice, die ehemalige Sekretärin mit guten Fremdsprachenkenntnissen, zwei Jahre jünger als ihr Mann, war Arnos erste Leserin, richtiger gesagt: Zuhörerin. Denn er pflegte ihr seine Texte vorzulesen, während sie Strümpfe stopfte oder andere Handarbeiten machte. Sie war seine äußert vorsichtig agierende Kritikerin und auch Anregerin, seine Muntermacherin und Ablenkerin von Sorgen und Ärger.

Das ewige Problem des freien Schriftstellers, soll ich mich heute um die Vermarktung des Geschriebenen kümmern oder soll ich weiter schreiben, es regelte sich in der Notsituation der Schmidts ganz von selbst. Die Bemühungen um den Verkauf des Geschriebenen standen offensichtlich im Vordergrund. Ging es doch um das Haushaltsgeld und die Miete. Dieser Druck war sicherlich genauso ursächlich für die konzise Schreibweise Arnos Schmidts wie seine Manie der Begriffssammlung in Zettelkästen und seine Angst vor der Wiederholung schon anderswo benutzter Ausdrücke.

Erst als Arno Schmidt beinahe regelmäßig Einnahmen aus Arbeiten für den Südwestfunk und für Zeitschriften und verschiedene Buchverlage bezog, besserten sich die Verhältnisse. Das Jahr 1954 markiert mit der Arbeit an dem fertig werdenden historischen Roman „Das steinerne Herz“ die Wende zum Besseren im Leben der beiden Schmidts, was eine zusätzliche Rechtfertigung für die Herausgabe dieses Intimberichts gibt.

(Walter Laufenberg in: netzine.de)

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