827. Ausgabe

 

 

Passiertes! – Passierte es?

 

Bei einer sich ausbreitenden Epidemie stehen geistige Menschen besser da als die auf Kontakt und Rummel und Gerede Angewiesenen, weil sie sich mit einem gescheiten Buch – es muss ja nicht immer ein Krimi sein – nur zu gern in freiwillige Isolation zurückziehen. Und das ist die beste Abwehrmaßnahme gegen Viren. Ich habe den „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio aus dem Regal genommen. Einhundert tolldreiste Geschichten, die sich zehn junge Italiener erzählen, die im 15. Jahrhundert vor der Pest in das ländliche Abseits geflohen waren. Erzählungen, mit denen ich mich nun behelfen muss, weil ich die Laufenberg-Bücher ja schon kenne. Aber wie ist es mit Ihnen?  

 

Zum Thema freiwillige Isolation: Der Rheinschiffer, in stockfinstrer Nacht allein gelassen in seiner erhöhten, dunklen Glaszelle, Stunde um Stunde gegen den Schlaf ankämpfend, mit stierem Blick an dem hellen Rund der Radarscheibe klebend, steuert er den Bug mit dem Dreieckswarnlicht zweihundert Meter weiter vorn und damit die beiden hintereinander gekoppelten Frachtkähne mit wertvoller Ladung aus einer Biegung in die nächste den Rhein hinauf – immer hinein in die undurchsichtige Schwärze.

 

In der Presse jetzt wieder dieses Einheitsgejammere: „Aktienkurse gefallen“ und „Aktien im freien Fall“ und „Milliardenvermögen vernichtet“ oder „Börsenabsturz am Schwarzen Montag“. Wenn die Schreiber mal einen Besuch an der Börse machen würden, sähen sie: Die Aktien kommen nicht in den Mülleimer. Jedem Aktienverkäufer steht ein Aktienkäufer gegenüber. Der eine verkauft zur Vermeidung von weiterem Wertverfall zu reduziertem Preis, der andere kauft besonders günstig in der Gewissheit, dass das Leben nach jeder Krise weitergeht. Beide sind zufrieden. Und die Konzerne bieten höhere Dividenden und kaufen jetzt besonders gern eigene Aktien auf, was jede der im Handel verbleibenden Aktien dieser Konzerne wertvoller macht, weil sie damit ein größeres Teilchen des Konzerns wird.

 

Neuerdings passiert es manchmal, dass in der Straßenbahn jemand für mich aufsteht. Ich kann dann den angebotenen Sitzplatz nur verlegen lächelnd mit den Worten ablehnen: „Nein, danke, ich habe so viele Jahre gesessen.“ Womit ich meine Schreibtischtätigkeit meine. Was regelmäßig anders verstanden und bestaunt wird. Vielleicht sollte ich lieber mehr Taxis benutzen oder mich in die begnadeten Hände eines Schönheitschirurgen begeben.

 

Im vorigen Monat ist in Japan der älteste Mann der Erde gestorben. Er ist 112 Jahre alt geworden. In Japan verwundert das nicht, hat man dort doch ganze Serien von Senioren mit weit über hundert Jahren zu bieten. Ausgerechnet das Land bricht alle Altersrekorde, das im August 1945 durch die beiden Atombombenabwürfe der Amerikaner über Hiroshima und Nagasaki eine großflächige und lang wirkende Atom-Kontaminierung erfuhr. Dass es dadurch neben den ungeheuren direkten Schäden auch ungewöhnliche gesundheitliche Spätfolgen gab, ist bekannt. Fast möchte man annehmen, auch extrem hohes Alter könnte eine der Spätfolgen sein.   

 

Die neue Dreistigkeit, mit der manche Stadtväter und Uni-Rektoren befehlen, wie wegen angeblicher Gendergerechtigkeit bei ihnen geschrieben werden soll, mit Sternchen und Strichen und unaussprechlichem Zeug, hat der frühere Bundespräsident Joachim Gauck jetzt in einem öffentlichen Vortrag als „betreutes Sprechen“ gebrandmarkt. Damit hat er noch sehr vorsichtig getadelt, was in Wahrheit eine Amtsanmaßung der Stadtväter und Uni-Rektoren durch Überschreiten ihrer Befugnisse ist. Die ist nach § 132 StGB strafbar und führt zu Geldstrafe oder bis zu zwei Jahren Haft. Was unbedingt berechtigt ist; denn wer befiehlt, wie zu sprechen ist, der wird bald auch befehlen, was zu sagen ist.   

 

Auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf ist jetzt ein neues Feld eröffnet worden, das Gemeinschaftsgarten genannt wird. Dort kann man sich gemeinsam mit seinem toten Lieblingstier beerdigen lassen, was bisher unzulässig ist. Aber weil das Tier nach deutschem Recht immer noch eine Sache ist, muss es für diese Gemeinschaftsbeerdigung in einem Tierkrematorium eingeäschert und in einer Urne aufbewahrt worden sein. Und es gilt offiziell nur als Grabbeigabe. Den Hinterbliebenen dürfte das egal sein. Im Übrigen ist sowas andernorts schon klammheimlich gemacht worden.

 

Die Börlinäle is finished. Gott sei thanks. Denn die Berliner haben mal wieder hemmungslos übertrieben mit ihrer Weltstadtsehnsucht, wie die Zeitung „Die Welt“ schrieb. „Good screening“ wünschte man dem Publikum auf der Berlinale, bevor ein Film anlief. Das deutsche Filmfestival in Berlin erweckte den Eindruck, als wäre Deutsch nur eine kleine Randsprache, der nicht besonders viel Beachtung geschenkt werden muss. Sogar der Hinweis zur Filmpiraterie wurde auf der Leinwand ausschließlich auf Englisch eingeblendet. Genauso die Info, dass das Festival ermöglicht wurde durch „The Federal Government Commissioner for Film and the Media“ – womit gemeint war: Das deutsche Kulturstaatsministerium. Peinlich, peinlich. In Venedig und Cannes undenkbar. Aber so war er schon immer, der deutsche Michel: Dumm und unterwürfig.

 

In meiner Tageszeitung am letzten Samstag eine ganze Seite mit Todesanzeigen. Nicht weiter erstaunlich, gestorben wird immer. Aber keine einzige Anzeige mehr, die ein Kreuz zeigte. Wird da voreilig ein Feld geräumt? Mir als überzeugtem Agnostiker, der zwei Bücher über den Jahrhunderte langen Kampf zwischen Christentum und Islam geschrieben hat, stößt die Frage auf: Kann es in unserem Interesse sein, dass jetzt eine Religion, die wir nur noch halbherzig befolgt haben, womit wir gut leben konnten, von einer Religion abgelöst wird, die keine Halbherzigkeit duldet?

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Aktuell veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.