752. Ausgabe

Passiertes! – Passierte es?

 

Jeden Morgen in der Zeitung soundso viele Tote bei Anschlägen und Kämpfen. Jeden Abend: Ein bis drei Krimis im Fernsehen und danach einer im Bett zum Einschlafen. Gleichzeitig haben Muckibuden gewaltigen Zulauf, und in immer mehr Friseurläden wird das Kindergeld in Kid’s Styling investiert. Die Gesellschaft, der ich angehöre, zeigt: Das Wörtchen modern kann man so und so betonen.

Für die UNESCO gehört das Bairische schon seit Jahren zu den bedrohten Sprachen. Als jetzt der Renommierclub Bayern München in einem europäischen Fußball-Wettbewerb scheiterte, kam prompt die Vermutung auf, das liege an der Schwäche des Bairischen. Es soll ja in dem Verein den einen oder anderen Spieler geben, für den dieser Dialekt Mutterlaut ist.

Martin Luther in aller Munde. Man kann ihn negativ sehen, als einen Spalter, wie er in jeder Glaubensgemeinschaft und in jeder Partei auftritt, oder als Aufwiegler und Feind der Not leidenden Bauern oder als Antisemiten. Wie es Euch gefällt oder nicht gefällt. Aber ein Titel gebührt ihm ohne Zweifel: Er ist neben den Gebrüdern Grimm einer der bedeutendsten Paten der deutschen Sprache. Hier nur ein paar der vielen neuen Begriffe, die er geschaffen hat: Lückenbüßer, Feuereifer, Lästermaul, Morgenland, Langmut, Beruf, Denkzettel, Wissensdurst, Machtwort, Herzenslust, Lügenmaul, Gewissensbisse.

Vor zweihundert Jahren wurde Theodor Storm geboren. Er war elf Semester lang Student mit schmalem Geldbeutel, wurde dann Anwalt mit geringen Einnahmen, war danach anderthalb Jahre lang Gerichtsassessor ohne Bezahlung, anschließend Kreisrichter mit Mini-Gehalt. Als er in seiner Heimatstadt Husum endlich zum ordentlich bezahlten Landvogt gewählt wurde, war er schon ein Endvierziger, und seine Frau Constance starb bei der Geburt des siebten Kindes. Da ist es nicht verwunderlich, dass der Mann sich zeitlebens die Knochen krumm geschrieben hat, um ein wenig Nebeneinnahmen zu haben, und dass er sich dabei mit seinen Unmengen an Gedichten und Novellen unsterblich gemacht hat.

Immer wieder diese Irritation, wenn ich am Rheinufer stehe und mir klarmachen muss, dass da ein Schiff nach Norden hinab fährt, ein anderes nach Süden hinauf. Weil in meinem Kopf die alte große Schultafel festsitzt, mit dem Süden unten und dem Norden oben.

Für die virtuelle Realität (Virtual Reality), d. h. für dieses Brikettbrillen-Erlebnis spricht nach Meinung der Vermarkter die hohe Intensität der Immersion, womit der Grad der Versenkung in das Gesehene gemeint ist. Nichts Neues, meine ich. Schon die Tatsache, dass der Roman mit seinen „bloß“ erfundenen Geschichten das Sachbuch mit seinen handfesten Informationen in der Lesergunst auf dem zweiten Platz verhungern lässt, zeigt doch, wie sehr wir die Intensität der Versenkung lieben. Denn darin ist der Roman mit seiner spannenden und seelenvollen Handlung unschlagbar.

Der Meeresspiegel ist in den letzten zwanzig Jahren viel stärker angestiegen als berechnet und vorausgesagt. Das heißt, dass eine neue Art von Bootsflüchtlingen auf uns zukommt. Menschen auf der Flucht vor dem Wasser. Die Regierung der Malediven soll schon viel Land auf Sri Lanka aufgekauft haben, um eines Tages mit ihrem umfangreichen Personal dorthin umsiedeln zu können.

Watch your time. Mit diesem Titel kommt eine 72-Seiten-Beilage im Großformat auf Hochglanzpapier daher. Im April des Jahres 2017 gleichzeitig von fünf der größten Tageszeitungen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien den Lesern auf den Tisch geworfen. Ein Prunkheft, das für Armbanduhren wirbt, mit ganz- und doppelseitigen Anzeigen und sehr wenig Fülltext. Dass nur auf einer Handvoll der opulenten Bilder eine Uhr am Handgelenk zu sehen ist, wo sie auch noch störend wirkt, ist nicht verwunderlich. Wir leben im Zeitalter des Handys, dem der moderne Mensch die exakte Uhrzeit abliest. Doch für mich als Schriftsteller ist der Titel Watch your time eine ultimative Aufforderung zum genaueren Hinsehen. Also lese ich bereitwillig, was mir in den Werbetexten von „charakterstarken Kreationen“ vorgeschwärmt wird, von der Uhr, die „Zeitgeschichte erzählt“, von einer anderen, die „Geheimnisse des Universums entschlüsseln“ soll. Wieder eine andere Uhr ist „für die Ewigkeit“, was mir immerhin angenehmer ist als die Uhr, die „die letzten sechzig Minuten versüßen“ soll. Was für eine schauerliche Nebenfunktion für eine Uhr. Aber dann erfahre ich: Bei der Uhrenproduktion geht es um „poetische Komplikationen“ und um eine „geheimnisvolle Alchemie“. So entstehen bei der „Eroberung der Handgelenke“ sogar „zeitlose Objekte“. Solche Selbstüberwindung imponiert mir. In diese Kategorie von selbstlosen Uhren für die „Epoche der Zukunft“ gehört wohl auch der Zeitmesser, der als „ein wahrhaft einzigartiges Statement, das die Zeit überdauert“ bezeichnet wird. Er konkurriert im Jenseits der Uhrenproduktion mit der Uhr für „die Zeit, zeitlos“. Doch schaue ich mir lieber die Uhr an, die „der ultimative Ausdruck von Kreativität und Schönheit“ sein soll. Oder die Uhr, die als „pastorale Hymne“ auftritt, in Konkurrenz zu einem „magischen Geschöpf“ und einem „poetischen Automaten“. So werde ich ein total verwirrter Augenzeuge der „Geburt einer Legende“, verstehe aber endlich: „So tickt die Branche“ der Uhrenproduzenten, – nämlich nicht ganz richtig.

Mein Buch „Hohe Zeit“, mit dem ich ein Beispiel für radikale Authentizität und Wahrhaftigkeit gebe, hat so eingeschlagen, dass ich wegen der geschilderten erotischen Abenteuer – eine Frau nach der anderen – zugeschüttet werde mit e-Mails, Briefen und Anrufen von Leserinnen und Lesern. Dabei werde ich entweder voller Entrüstung als Wüstling beschimpft und als moderner Casanova in die Ecke gestellt, wo ich mich schämen soll. Oder ich werde himmelhoch gepriesen als der Frauenflüsterer, der Verständnis zeigt für das schwache Geschlecht. Von manchen Lesern werde ich als literarisches Genie gefeiert, das endlich etwas auf den Markt gebracht hat, das man mit Begeisterung liest. Da heißt es: Sie hätten einen renommierten Literaturpreis verdient. Ein anderer schreibt: So ein gerissener Verführer sollte nur genießen und schweigen. Doch eine Zeitung stellt fest, dass der Autor sich auch selbst ganz schön durch den Kakao zieht. Alles wahr und richtig, aber all das kann ich doch nicht in der Rubrik Leser-Reaktionen hier im NETZINE veröffentlichen. Weil das eine so peinlich ist wie das andere. Ich muss wohl abwarten, bis sich irgendwann die Aufregung gelegt hat und nüchtern festgestellt werden kann, dass dieses Buch eigentlich ein tolles Leseerlebnis ist.

Hohe Zeit Cover

 

 

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