702. Ausgabe

Passiertes! – Passierte es?

 

Dass der neue „Tatort“ sich vom letzten „Tatort“ darin unterscheidet, dass er den Rahmen des Gewohnten sprengt, wie die Zeitung jubelt, das ist mittlerweile so was Gewöhnliches, dass es sich nur noch damit übertreffen lässt, dass man endlich die  ganze penetrante Tatorterei tötet und damit auch auf die peinlich übertriebene Verherrlichung von Schauspielern verzichtet, die doch nur spielen und sagen, was andere ihnen vorgeschrieben haben.

Ein deutscher Bundespräsident hat einer Frau dafür, dass sie einen deutschen Bundeskanzler geohrfeigt hat, das Bundesverdienstkreuz verliehen. So effektiv arbeiten bei uns die obersten Staatsorgane zusammen. Aber wehe dem, der jetzt mit einer Attacke auf die Bundeskanzlerin auf das Bundesverdienstkreuz aus der Hand eines zukünftigen Bundespräsidenten spekuliert. Weiß man doch nicht, was für ein höchst persönliches Wertesystem das nächste Staatsoberhaupt vertritt.

Dass bei uns Verkaufszahlen und Einschaltquoten, Aufrufe und Likes darüber entscheiden, was gut ist und was nicht, dieses heruntergekommene Qualitätsbewusstsein ist unser Abschied als Kulturvolk.

Das ist nicht der berühmte britische Humor, das sind vielmehr immer neue Methoden, sich lächerlich zu machen: Die Nachrichtensprecherin im deutschen Fernsehen verrenkt ihre Zunge bei dem Kürzel für Informations-Technologie (IT) zu einem Ei-Tie. Und in Mannheim habe ich jetzt ein Auto gesehen mit großer Aufschrift: Pflegedienst
Service.

 

Einem weit verbreiteten Bedürfnis folgend soll es in Essen und in Braubach bei Koblenz ab diesem Sommer Friedhöfe geben, auf denen eine Urnenbestattung von Menschen zusammen mit der Urne des gestorbenen Lieblingstiers möglich ist. Dahinter steht allerdings nicht die Einsicht, dass auch der Mensch zur Fauna gehört, es ist das eher ein Zeichen von Verzweiflung der mit modernen Kommunikationsmitteln einsam gemachten Menschen von heute.

 

Verschiedene Tiere, von denen man annimmt, dass sie sich als Feinde betrachten, zusammenzubringen und sie in schönster Harmonie vorzuführen, das ist der Ehrgeiz der Youtube- und Facebook-Enthusiasten. Im alten Rom war das, mit größeren und gefährlicher wirkenden Tieren, die tollste Attraktion im Kolosseum. Aber damals wollte man nicht das friedliche Miteinander bestaunen, sondern sich daran ergötzen, wie sie sich gegenseitig zerfleischen. Also eine positive Entwicklung auf der Ebene der einfachen Gemüter.

 

Immer wieder werde ich von jungen Leuten gefragt, wie man Schriftsteller wird. Dann schocke ich mit dem Hinweis: Zunächst einmal müssen Sie sich entscheiden, ob Sie für Kritiker oder für Lieschen Müller schreiben wollen, also geistvoll für Hanser, Suhrkamp und Co. und deren Leserschaft oder gefühlvoll für Goldmann, Heyne und Co. und deren Leserschaft. Es geht – vereinfacht gesagt – um Kopf oder Bauch. Ganz abgesehen vom Inhalt, der gerade gefragt sein muss, die Literaturagenten und Verlagslektoren erkennen schon an wenigen Seiten Ihres Textes, ob Sie für ihr Programm richtig sind oder nicht. Was Sie Ihnen aber  freundlicherweise nicht sagen, das ist: Weil Sie sich nicht auf kurze Sätze beschränkt und nicht konsequent den Genitiv vermieden haben, weil sie brauchen mit zu verwenden, größer als schreiben statt größer wie und scheinbar von anscheinend sowie dasselbe von das gleiche unterscheiden können, sind Sie nicht richtig für die Bestsellerei. Vor allem fehlen bei Ihnen die großzügig über den Text gestreuselten Produktnamen, die Modernität zeigen, und man findet bei Ihnen viel zu selten die Ausdrücke Scheiße und Arschloch, die Aufgeschlossenheit signalisieren. Also bleiben Sie lieber beim ernsten Fach statt zu bestsellern!

 

Mein Vater hat, solange ich denken kann, einen kleinen Bakelit-Kalender auf dem Radio stehen gehabt. Ein Ständerchen mit vier Päckchen unterschiedlich hoher, rechteckiger Kunststoffscheiben hintereinander. Ganz vorne in Weiß auf dem braunen Kärtchen die Zahl des Tages. Es wurde überragt von einem Kärtchen mit dem Wochentag. Dahinter und noch etwas größer die Karte mit dem Monatsnamen. Zuoberst war dann nur noch die Karte mit der Jahreszahl zu sehen. Mit der absoluten Zuverlässigkeit des Berufsbeamten hat mein Vater jeden Morgen noch vor dem Rasieren die beiden Kärtchen mit der Zahl und dem Wochentag von vorne weggenommen und nach hinten gesteckt. Und es war für ihn schon was Besonderes, wenn er auch die Karte mit dem Monatsnamen nach hinten stecken musste. Natürlich gar nicht zu vergleichen mit dem Zeremoniell, wenn er das oberste Kärtchen rausgezogen und ans Ende seines Päckchens gesteckt hat, um zum ersten Mal die neue Jahreszahl sichtbar werden zu lassen. Mein Vater nannte den kleinen Ständer mit den braunen Kärtchen seinen ewigen Kalender und war sehr stolz auf ihn. Weil der immer richtig ging. Dass er sich mit dieser ewigen Wiederkehr der nicht zu verschleißenden Kunststoffkärtchen selbst betrog, ist doch kein Tag wie der andere, ist mir erst viel später klar geworden. Da konnte ich mich nicht mehr als Besserwisser über meinen Vater erheben. Aber schon als Kind hatte mir mehr imponiert, was ich über die Marotte eines Nachbarn gehört hatte. Der bewahrte die Blättchen seines Abreißkalenders auf. Tag für Tag auf kleinen Stapeln beiseite gelegt und Jahr für Jahr in Kartons gesammelt. Weil es doch jeden Tag nur ein einziges Mal gegeben hat, wie er sagte, und sie nie zurückkommen.

 

 

 

 

 

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