652. Ausgabe

Passiertes! – Passierte es?

Die Nachrichten sind voller Protestgeschrei, die Zeitungen voller Verständnis. Bisher sprach man meist vom ohnmächtigen Protest, erst neuerdings gibt es den mächtigen. Weil heute jeder Schrei nach besseren Verhältnissen unverhältnismäßig vergrößert wird durch das aktuelle Fernsehen und das Internet und durch viele hunderttausend Kameras und Mobilphones. Was mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig begonnen hat, mit denen das DDR-Regime weggefegt wurde, wird seitdem einer Regierung nach der anderen zum Schicksal. Ägypten, Tunesien, Türkei, jetzt Brasilien. Weltweit zeigen die Menschenmassen auf den Straßen und Plätzen der großen Städte den Herrschenden, dass es heute nicht mehr genügt, nach Maßgabe der tagesaktuellen demoskopischen Erhebungen Politik zu machen. Die Formen der Erhebungen ändern sich radikal. Der Typ des Herrschers muss sich mit ihnen ändern.

Die beiden großen Lexikon-Konkurrenten Meyer und Brockhaus haben vor dreißig Jahren noch gedacht, sich über die Moderne hinwegretten zu können, indem sie fusionierten. Jetzt ist klar, es wird Meyers Konversationslexikon und die Brockhaus Enzyklopädie in gedruckter Form nicht mehr geben. Und ich muss mich mit schuldig fühlen an ihrem Tod. In meinem Arbeitszimmer stehen neben und hinter mir noch von Meyers Konversations-Lexikon die 5. Auflage aus dem Jahr 1893 in 17 Bänden und die 6. Auflage von 1905 in 20 Bänden, außerdem von der Brockhaus-Enzyklopädie die 17. Auflage von 1966 in 24 Bänden und die 19. Auflage von 1986 in 30 Bänden. Soviel diese vier Giganten mich gekostet haben, soviel ich Jahrzehnte lang mit ihnen gearbeitet habe und soviel ich ihnen verdanke, in den letzten Jahren – zugegeben – bin ich daneben doch immer öfter fremdgegangen zu Wikipedia.

Zwar floriert das Gewerbe der verschiedenen Buchmacher, dennoch geht es weiter abwärts mit der Kultur in Deutschland. Immer weniger Leute lesen ein literarisch anspruchsvolles Buch, das Scheckbuch gibt es schon nicht mehr, und die Tapetenbücher werden immer leichter.

Einer der berühmtesten Wallfahrtsorte der katholischen Kirche, das im Südwesten Frankreichs gelegene Lourdes, hat schwere Schäden erlitten und muss nun enorme Einnahmeverluste hinnehmen, weil die Grotte der Marienerscheinungen aus dem Jahr 1858 und die daraufhin erbaute Basilika von dem Flüsschen Gave de Pau überschwemmt wurden und deshalb jetzt monatelang keine Pilgergruppen dort empfangen werden können. Das Desaster ist nicht neu. Schon 1937, 1979 und 1982 soll es dort schwere Überschwemmungen gegeben haben. Das Problem ist aber weniger die Behebung der Wasserschäden als die Irritation der Gläubigen. Muss doch, wer an die Marienerscheinungen glaubt, auch daran glauben, dass jede Überschwemmung gottgewollt ist. Und muss auf das Wozu eine Antwort finden, was einige geistige Klimmzüge erfordert.

Ein katholisches Blättchen namens „credo“ brachte jetzt auf vier Seiten eine Zusammenstellung von Unglaublichem unter dem Titel „Unser täglicher Wahnsinn“. Jetzt weiß ich, was in der Politik, der Kulturindustrie, der Wirtschaft und Medizin sowie bei den Leuten daheim und am Arbeitsplatz an grandiosem Mist gemacht wird. Zahlenangaben, die einen vom Hocker werfen könnten. Wenn nur nicht die Angaben darüber fehlten, wie viele Fälle von Kindesmissbrauch sich das kirchliche Personal im Durchschnitt pro Monat leistet. Und auch über die Hunderttausende von Menschen, die für die reine Lehre ermordet wurden, keine Auskunft.

Das kann man mal vergessen, ja, aber dafür wird man bestraft. Habe nicht daran gedacht, dass es die Duty-Free-Geschäfte im Flughafen nicht mehr gibt. Das steht dort zwar noch groß an den prächtig aufgemachten Warenlagern, aber mit dem nichtssagenden Zusatz Travel Value. Was bedeuten soll, dass es sich nicht mehr um einen Duty Free Shop handelt, sondern um einen Laden, der einem die Chance bietet, die Ware wesentlich teurer einzukaufen, die man zu kaufen vergessen hat, als man das letzte Mal im Supermarkt war.

Geiziges Fliegen ist Billigstfliegen. Dass es in den Fliegern kein Essen mehr gibt, darf einen nicht wundern. Dass es die Kotztüte im Netz vor einem ebenfalls nicht mehr gibt, erst recht nicht. Das hat wohl irgendwie miteinander zu tun. Dabei ist die drangvolle Enge in den Flugzeugen und bei der Abfertigung vorher und danach wirklich zum Kotzen.

Die schrille Schnebbel in der Sitzreihe hinter mir ließ mich zu der grundsätzlichen Erkenntnis kommen: Es gibt Menschen, die fühlen sich erst so richtig in ihrem Element, wenn sie unter einer kräftigen Geräuschdusche leben. Dann zeigen sie ihre Überlegenheit. Mit vollem Stimmbandeinsatz. Den alles beherrschenden Lärm noch überstimmen zu können, das gibt ihnen ein Gefühl von Bedeutung, dagegen ist das ausdrucksstärkste Schweigen ein Nichts.

Lecktüre. Die Bundesärztekammer plant eine besondere Förderung der Zeitschriften, die in Wartezimmern der Arztpraxen ausliegen, weil diese trotz des Überangebots an Ärzten dafür sorgen, dass den Medizinmännern die Einnahmen nicht wegbrechen. Verständlich, wenn man sieht, wie sich die Leute im Wartezimmer durch die Hefte wühlen und sich die Finger danach lecken.

China ist top. In einem kleinen China-Restaurant im südirischen Cork holte die Bedienung, als wir Schwierigkeiten mit der Festlegung der Fischzubereitung hatten, ihren kleinen elektronischen Übersetzer und fragte mich nach meiner Muttersprache. Ein schnelles Tipp, Tipp, Tipp und schon wurden wir uns einig.

Weitere Erlebnisse in Irland, von wo ich gerade heimgekehrt bin, stehen ab morgen in einem neuen Reisebild mit Fotos im NETZINE unter Vermischtes.

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