620. Ausgabe

Es war einmal eine Encyclopaedia Britannica. Das war eine imponierende Reihe von 32 Bänden. Dieses Großlexikon wurde 244 Jahre alt. Seinen Höhepunkt hatte es im Jahre 1990. Damals wurden mehr als 120 000 Reihen verkauft. Doch von der letzten Ausgabe konnte der Chicagoer Verlag bloß noch 8000 verkaufen. Deshalb kam am 13. März 2012 die unvermeidliche Todesnachricht. Auch noch so viel Altersweisheit hilft nicht gegen das Internet.

Letzter Ausweg: Oberflächendifferenzierung! Vor Jahren wunderte ich mich in Island, dass dort kaum Papiertaschentücher zu kaufen waren. Einfach noch nicht üblich. Dabei war die eine Sorte, die ich schließlich fand, mit einem so einschmeichelnd schönen Bild eines Lämmchens geschmückt, dass ich die Packung kaum aufzureißen wagte. Inzwischen ist bei uns der Wettbewerb der verschiedenen Hersteller voll entbrannt, obwohl ihre Tücher in Haptik, Farbe, Format, Faltung und Verpackung fast ununterscheidbar geworden sind. Jetzt geht es um die schöneren Bilder auf der Folie drumherum. Absurd, aber wir kaufen die Wegwerf-Artikel, die gefälligere Bilder auf der Wegwerf- Verpackung bieten.

Höre im Radio, dass es immer mehr Probleme mit Schulverweigerern gibt. Was früher undenkbar war: Die Kinder gehen einfach nicht zur Schule. Gleichzeitig berichtet die Zeitung, die Zahl der Lehrer, die sich frühpensionieren oder frühverrenten lassen, steige besorgniserregend an. Klar, dass diese beiden Meldungen zusammen gehören und ihre Erklärung darin finden, dass die linken Latzhosen-Volksbeglücker der Siebziger Jahre in ihrer Allwissenheit jegliche Autorität abgeschafft haben. Jetzt ernten sie als Lehrer oder als Eltern die Früchte ihrer Weltverbesserung.

Da regen sich die Leute auf, weil die Kraken Facebook und Google uns fest im Griff haben. Doch andere wiegeln ab: Man braucht ja nur die Finger davon zu lassen. Dabei ist das Ausspionieren längst überall üblich. Kauf Dir per Internet eine Aktie, prompt hast Du am übernächsten Tag das Werbeexemplar einer Zeitschrift für Aktionäre im Briefkasten. Oder druck Deine Fahrkarte nach Darmstadt vom Bildschirm aus, schon am Tag darauf wirst Du mit vielen Angeboten von Darmstädter Hotels beglückt. Wo auch immer Du klickst, du kriegst mehr geboten als Du gesucht hast. Das ist fast wie Weihnachten.

Ein Fahrrad hatte die Schnecke plattgefahren. Eine andere war bei ihr, hing halb über ihr. Was für ein Bild intensiver Trauerarbeit! Nur schade, dass mich ein Biologe darüber aufklärte, dass Schnecken sich so mögen, dass sie sich gegenseitig auffressen.

Naturbeobachtung am Beispiel Kopfhaar: Unübersehbar, dass es fast immer bei Frauen üppiger wächst und auch länger hält als bei Männern. Wenn man dann auch noch weiß, zu welchem Zweck die Natur uns die Behaarung lässt, nämlich zum Schutz der lebenswichtigen Stellen unseres Körpers durch Kühlung, muss man dafür plädieren, dass die Frauen mit ihren offenbar wichtigeren Gehirnen endlich überall in der Welt das Sagen haben sollten. Wenn auch die Männer mehr Haare um die Schnauze haben.

Immer dieses Gerede über Kinderarmut, ohne klar zu sagen, ob man Armut an Kindern oder arme Kinder meint. Dabei könnte man doch in der Steigerung des einen schon ein Rezept für die Reduzierung des anderen sehen: Je weniger Kinder wir haben, umso weniger arme Kinder haben wir.

So verfälschend oft die Darstellung unserer Vorvorfahren in den massenhaft angebotenen historischen Romanen ist, weil die Autorinnen und Autoren unbewusst modernes Denken und heutiges Bewusstsein einbringen, genau so verfälschend waren in den Dramen unserer Klassiker die Dialoge, weil kein Mensch so prompt und ohne Zeit zum Nachdenken jeden perfekten Satz seines Gegners mit einem ebenso perfekten Satz parieren kann.

Martin Walser ist 85 geworden. Gratulation! Gleichzeitig kündigt er als sein nächstes Buch einen Liebesroman an. Es gibt sie also, die Liebe jenseits von Viagra. Das muss wohl endlich die wahre Liebe sein, bar aller Egoismen – als ob es das gäbe!

Und in eigener Sache: Jetzt ist es überall im Buchhandel, mein neues Buch „Die Berechnung des Glücks – Das Leben des Hermann Heinrich Gossen“. Dafür gibt es selbstverständlich keine Werbung in „Bild“ oder „Brigitte“ und so weiter. Nicht nötig. Dieser Roman, so unterhaltsam und spannend er ist, wurde nicht für den Tag geschrieben. Das ist ein Buch von bleibendem Wert. Denn wer es gelesen hat, ist ein anderer Mensch.

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