(101 Reykjavik, IS 2000, 85 Minuten, Drehbuch und Regie: Baltasar Kormákur, nach dem gleichnamigen Roman von Hallgrimur Helgason)
Schon im Vorspann wird darüber philosophiert, dass man aus dem Totsein kommt und zum Totsein hin geht, in klassisch schöner Formulierung: „Das Leben ist eine Unterbrechung des Todes.“
Das steht wie das Motto über diesem Film, der in der Nachfolge von Woody Allen den totalen Wahnsinn des modernen Großstadtlebens vorführt. Hier am Beispiel einer der kleinsten Hauptstädte der Welt vorgeführt: im Postbezirk 101 von Reykjavik. Also Großstadtleben auf beschränktem Raum, was den Beteiligten nicht weiter auffällt, weil man in der Enge seiner Diskothek lebt, im intensiven Hautkontakt mit Menschen, die man fast alle kennt. Und wenn man im Gewühl und Lärm plötzlich von einer Bekannten angesprochen wird, dann ist das die Frau, mit der man gestern geschlafen hat, wie sie einem ohne Vorwurf in Erinnerung ruft.
Der 28-jährige Hlynur ist ein junger Mann mit der Antriebskraft eines Greises und den Umgangsformen eines Kleinkinds. Er lebt noch immer bei seiner Mutter, was ihr so gut gefällt wie ihm. Er ist arbeitslos, aber auch nicht erpicht auf Arbeit, weil er genug beschäftigt ist mit dem Genuss von Bildschirm-Pornos. Seine Idealvorstellung vom Leben ist das bloße Rumhängen mit dem nahtlosen Übergang von der Alimentenzahlung des Vaters zur Stütze, der anschließenden Rente und dem Verdämmern im Altersheim.
Das ist eine Karikatur des Sozialstaats isländischer Ausprägung, so überzeichnet, wie Karikaturen sind, aber auch so wahr. Jedenfalls hochaktuell geworden durch das totale Wirtschaftsdebakel, das Ende 2008 über die erstaunten und an amerikanische Konsumorgien gewöhnten Isländer hereinbrach. Offenbar waren Buch und Film zu früh erschienen, um eine Fünf-Vor-Zwölf-Warnung sein zu können.
Als die Mutter des phlegmatischen jungen Mannes eine junge spanische Flamenco-Tänzerin als Besucherin in die Wohnung bringt, bemerkt sie, was ihr fehlt. Sie lebt seit über zwanzig Jahren von ihrem Mann, einem Säufer, getrennt. Aber jetzt fühlt sie sich zu der jungen Spanierin so hingezogen, dass sie ein lesbisches Verhältnis mit ihr beginnt. Gern bekennen die beiden Frauen sich offen als ein Paar und schaffen es sogar, dass die junge Spanierin schwanger wird. Schließlich leben die beiden Frauen und das Baby zusammen mit Hlynur in der Wohnung der Mutter. Und Hlynur stellt sich vor, dass er der Vater des Neugeborenen ist, aber auch sein Stiefvater und sein älterer Bruder und wer weiß was sonst noch alles. Das Fazit einer so stolzen wie blöden Liberalität, die in sexuelle Libertinage ausgeartet ist.
Das in diesem Film gezeigte Leben ist eine einzige Party, unterbrochen hin und wieder durch eine erzwungene Familienfeier, die aber zum Davonlaufen ist. Direkte Gegenstücke der Yuppies sind die Jugendlichen Reykjaviks, die sich in ihren Lokalen wild verklumpen. Für sie zählt nur noch Sex, und zwar in der sportlichen Variante gesehen: Gut oder schlecht oder besser gemacht. Daneben schätzen sie Zigaretten und grenzenlose Sauferei, aber auch Haschisch, den Lärm permanenter Musikbeschallung und leeres Geschwätz. Das alles glauben sie zu brauchen, weil draußen die sibirische Kälte lauert. Kirche und Erdgeister sind bloße Randerscheinungen des Lebens, wie die weite Leere der Landschaft und der Schnee, der ständig rieselt. In solcher Umwelt ist der ignorante Konsumtrottel die geglückte Überwindung des Leistungsträgers.
Dabei macht der Protagonist Hlynur allerdings eine interessante Entwicklung durch. Auf einmal ist er in der Lage, einen ihm ungeniert vorgeführten Koitus als Anregung zu einer generellen Betrachtung zu verstehen. Er möchte eine Serie über das unterschiedliche sexuelle Verhalten der verschiedenen Völker produzieren. Daraus wird natürlich nichts. Stattdessen endet Hlynur in einem festen Job, nämlich als Parkuhrwächter, also bei dem, was man den öffentlichen Dienst nennt. Ein Happy End in einem überkommenen Idealzustand, weil beim öffentlichen Dienst das Dienen bekanntlich schon mit der Bezeichnung erbracht wird.
Der Film kam angeblich durch ein zufälliges Zusammentreffen des Autors mit dem Regisseur, der damals noch Schauspieler und Kneipenwirt war, in einer Reykjaviker Bar zustande. Bei den gleichermaßen literaturbegeisterten wie kinoverrückten Isländern, die im Alltag durch das total amerikanisierte Fernsehen malträtiert werden, wurden Buch und Film „101 Reykjavik“, die beinahe gleichzeitig erschienen, sofort große Erfolge.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)