Patrick Modiano: Die Kleine Bijou

Zuviel Nichts

(Patrick Modiano: Die Kleine Bijou, Roman, aus dem Französischen von Peter Handke, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013)

Eine junge Frau namens Thérèse, die sich an ihre Zeit als die kleine Bijou erinnert, irrt durch ein Paris, das nur aus überfüllten U-Bahnhöfen und leeren Straßen zu bestehen scheint. Das Kleine Juwel, so wurde sie von ihrer Mutter genannt, für die sie als eine Art Accessoire diente. Im Übrigen weiß sie von ihrer Mutter sehr wenig, gerade nur, dass sie eine Ausbildung als Tänzerin hatte und zuletzt wegen kaputter Fußknöchel nicht mehr ihre Auftritte in drittklassigen Revuen schaffen konnte. Außerdem, dass sie unter falschen Namen auftrat, irgendwann angeblich sogar geadelt, dass sie auch einmal von einem reichen Mann mit viel Geld und einer großen Wohnung ausgestattet wurde, und vor Jahren verschwunden und in Marokko gestorben ist.

Das wird den Lesern peu à peu serviert, während Thérèse in Paris hinter einer Frau im gelben Mantel herläuft, die aussieht, als ob sie ihre Mutter wäre. Die Mutter ist also nicht gestorben? Das ist der Ausgangspunkt des Romans, der Beginn des Spannungsbogens, der aber nicht zum Endpunkt geführt wird, sondern in der Luft hängen bleibt. Was die Lektüre zunächst spannend macht, den Leser aber unbefriedigt zurücklässt.

Es ist mühsam, sich durch dieses Buch zu arbeiten. Weil kein Pariser Leben gezeichnet wird. Es wird nur ein umfangreiches Straßenverzeichnis zitiert. Namen, Namen, Namen, aber keine Straße wird belebt. Kein schönes Bild, kein Satz, der einen jubeln lässt. Nichts. Dabei widerfährt der herumirrenden Thérèse durchaus Sonderbares. Sie bekommt eine Aufgabe, als sie die lieblos behandelte kleine Tochter eines zwielichtigen jungen Paares betreuen soll. Das Kind steht wohl als eine Kopie ihrer selbst. Aus dem Paar wird dann nichts gemacht, aus dem Töchterchen ebenfalls nicht. Die Protagonistin kommt mit einem Mann in engere Berührung, der fremdsprachige Radiosendungen abhören und übersetzen muss. Auch mit diesem Kontakt weiß der Autor nichts anzufangen. Schließlich trifft sie auf eine unglaublich freundliche Apothekerin, die sich rührend um sie kümmert. Wieder für nichts, außer für die Notbremse, die der Autor zieht, weil er nicht weiß, was er sagen soll.

Denn dieses Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es nichts zu sagen hat. Als Leser ist man hinterher keinen Deut klüger als zuvor. Das liegt daran, dass der Autor von Anfang bis Ende bei seiner Masche der sich immer wieder vordrängenden Erinnerungen bleibt, nun aber anders als bei seinen Büchern mit wichtigen, wenn auch nicht selbst erlebten Themen wie Résistance oder Judenstern, nichts Wesentliches zu bieten hat.

Dieses Manko lässt sich nicht wettmachen mit den Anklängen an die Sammelleidenschaft des Nouveau Roman, die sich auf Belangloses stürzte. Und die durch Äußerlichkeiten hervorgerufenen Erinnerungen sind ein Gestaltungsmittel, das sich nicht als Dauerfeuer einsetzen lässt. Cineasten kennen diesen Hang, eine ungewöhnliche Technik selbständig werden zu lassen, und tun die Ergebnisse mit Recht als Experimentalfilm ab. In diesem Sinne ein bloßer Experimentalroman ist „Die Kleine Bijou“.

Dass Patrick Modiano nicht viel zu sagen hat, ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, dass der 1945 in Paris geborene Autor weder die Erfahrung eines Studiums noch irgendwelcher Berufsausbildung und Berufstätigkeit hat. Er ist einfach zu früh „entdeckt“ worden, nämlich von Raymond Queneau, der dem jungen Mann nicht nur das Faible für eine gewisse Sprachäquilibristik vermacht hat, sondern ihn auch gleich zum führenden französischen Verlag Gallimard gebracht und damit auf die Schiene zum Erfolgautor gesetzt hat. Was – wie üblich – zu einem Literaturpreis nach dem anderen führte, weil Kritiker und Jurymitglieder nichts Negatives zu sagen wagen bei einem schon preisgekrönten Autor. So bekam Modiano im Herbst 2014 auch noch den Nobelpreis für Literatur.

Einmal abgesehen vom schwindsüchtigen Inhalt des Romans „Die Kleine Bijou“, man weiß inzwischen, dass die vielen sprachlichen Schnitzer nicht nur auf das Konto des Übersetzers Peter Handke gehen. Vor allem ein störendes Durcheinander der Zeiten ist charakteristisch für dieses Buch. Aber es wird sich wohl auch ein Kritiker finden lassen, der diesen Tempisalat als künstlerisches Mittel bezeichnet, das dem Bewusstseinsstrom im Kopf eines Großstädters entsprechen soll.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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