Unter Japanern, diesen Menschen zwischen Vorgestern und Morgen (2009)

Goethe in Weimar hat sich immer nach Griechenland gesehnt, es aber nie gesehen. Lichtenberg in Göttingen hat sich jahrelang auf eine Italienreise vorbereitet, zu der es dann doch nicht gekommen ist. Ich aber bin in Japan, nach dem ich mich nicht gesehnt habe, und auf das ich auch nicht vorbereitet bin. Mal sehen, wie das Land das aushält. Jedenfalls bin ich bereit, mich mit einer völlig fremden Kultur zu beschäftigen. Bin ja Teilnehmer einer Studienreise.

Schnell bekomme ich den Eindruck: Die Japaner leben gleichzeitig im Vorgestern und im Morgen. Eine Ambivalenz, die sie auch mit ihrer Flagge zeigen, deren roter Ball sowohl als eine untergehende Sonne gedeutet werden kann als auch mit etwas gutem Willen als eine aufgehende. Für mich sind die Japaner mit dieser Zweigleisigkeit des Lebens beinahe schon Aborigines und Marsmenschen in einem.

Dabei ist Japan einmalig, denn hier gibt es alles nur in der Vielzahl. Ein Japan-Besuch ist das Erlebnis des reinen Pluraletantums: Es gibt nur Menschen und nur Millionenstädte und nur Bergriesen und nur Vulkane und nur Erdbeben und nur Stäbchen und nur Verbeugungen. Nichts davon ist bloß einmal vorhanden.

Kabuki-Theater in Tokyo

Kabuki-Theater in Tokyo

Hotel Metropolitan in Tokyo. In der dritten Nacht um vier Uhr dreiundzwanzig weiß ich zunächst nicht, wovon mein Bett schwankt. Von zuviel japanischem Bier oder von dem Aneinanderstoßen der eurasischen Erdplatte mit der pazifischen? Entscheide mich dann gegen das Bier und für die pazifische Variante. Da habe ich meinen Frieden und kann wieder einschlafen.

Die erste Kneipe, die ich in Tokyo finde, nahe beim Hotel Metropolitan, ist ein English Pub. Immerhin etwas beinahe Heimeliges, wenn auch sehr laut und eng. Schon am zweiten Abend sagt die Bedienung, dass man sich nicht so breit machen darf, mit Jacken und Taschen, weil sie möglichst viele Gäste an den kleinen Tischen unterbringen muss und auch Essen verkaufen will. Da versuche ich, das Gesicht zu machen, das ich bei den jungen Japanerinnen sehe, diesen generellen Ausdruck der Wurschtigkeit. Was mir aber schon bald als unmöglich klar wird. Denn der Gesichtsausdruck kommt nur von dem Loriot-Gebissstand, den die Mädchen hier durchweg haben. Und der fehlt mir.

Asahi-Brauerei in Tokyo

Asahi-Brauerei in Tokyo

Die schätzungsweise 5 % der Passanten, die auf der Straße eine weiße Atemmaske tragen, so dass das Gesicht nach Disneys Ente aussieht, tragen leider nicht spürbar zur Luftverbesserung bei. Kein Wunder, die Maske liegt nicht überall am Gesicht so dicht an, dass vermieden würde, die Atemluft ungefiltert in die Straßenatmosphäre auszuhauchen.

In Deutschland wird mit dem Getue um den Datenschutz der Schein einer Privatsphäre erhalten, hier gibt es sie. Denn wo auch immer Japaner stehen oder sitzen, haben sie ein Buch in der Hand. Leider kann ich nicht sehen, was sie gerade lesen, weil es fast immer in einer neutralen Schutzhülle eingepackt ist. Gute Ausrede, nicht wahr? Immerhin ist das ein perfekter Schutz gegen: Sage mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist. Das ist Datenschutz auf Japanisch.

Im Nationalmuseum für Kunst ein Versuch, mit den Japanern vertraut zu werden. Wunderschöne Rollbilder, doch muss ich feststellen: Die Japaner haben sich in der Malerei nicht damit aufgehalten, die Zentralperspektive zu propagieren und ähnliche Umwege zu gehen. Stattdessen haben sie ihre Schrift, die ja ursprünglich eine Bilderschrift ist, wieder zum Bild werden lassen und uns das als Kalligraphie verkauft. Sie haben sich auch nicht lange damit aufgehalten, die Wirklichkeit gemalt wiederzugeben, weder impressionistisch noch expressionistisch, sondern haben einfach die überlegene deutsche Kameratechnik kopiert und sie in Sieben-Meilen-Schritten weiterentwickelt zu etwas, dem keine naturalistische oder veristische Malerei mehr folgen kann. Jetzt knipsen alle rundum, auch die ausländischen Touristen, nur noch japanisch.

Die Japaner sind todesmutige Menschen, sich stets der Lebensgefahr bewusst und nur für den Augenblick lebend. In der gigantisch wiederaufgebauten Stadt Hiroshima, wo die Amerikaner am 6. August 1945 mit einer Uranium-235-Bombe, deren Sprengkraft 16.000 Tonnen TNT entsprach, den größten Massenmord der Geschichte in einer Sekunde geschafft haben, leben heute wieder rund 1,6 Millionen Menschen. Die Halbwertszeit von Uranium 235, die 703,8 Millionen Jahre beträgt, ist für sie kein Thema. Die ebenfalls imposant wiederaufgebaute Stadt Nagasaki, wo die Amerikaner am 9. August 1945 mit einer Plutonium-239-Bombe, deren Sprengkraft 21.000 Tonnen TNT entsprach, den zweitgrößten Massenmord der Geschichte in einer Sekunde geschafft haben, hat heute wieder rund eine halbe Million Einwohner. Auch für sie ist die Halbwertszeit von Plutonium 239, die nur 24.110 Jahre beträgt, kein Thema. Die Japaner sind hart im Nehmen. Ist doch nie zuvor die Massenvernichtung von Leben so elegant vollzogen worden wie hier. Aber dazu später mehr.

Fahrt nach Nikko. Durch eine Landschaft, die immer noch das Land des Dichters Matsuo Basho ist. Dabei ist der schon mehr als dreihundert Jahre tot. Was für den Zen-Mönch und Haiku-Dichter Tageswanderungen waren, ist für die Busladung Touristen nur eine auf schnellen Reifen gerollte Tour von eineinviertel Stunden. Die Berge zur Linken geben sich betont distanziert. Und dem Asphaltband lässt sich kein einziger Haiku entlocken. Zu viele Schilder rechts und links verlangen zuviel Aufmerksamkeit. Ein Exit nach dem anderen Exit wird negiert. Sämtlich vertane Chancen. Das ist halt Tourismus.

Die berühmten drei Affen in Nikko

Die berühmten drei Affen in Nikko

In der Nähe locken die Kegon-Wasserfälle als ein beliebtes Ausflugsziel, wie die vielen Verkaufsbuden auf dem Plateau gegenüber dem Wasserwunder zeigen. Und dann diese drastische Belehrung: Auch was ein bloß drei handbreites Bächlein ist, es wirkt, wenn es aus 1300 Metern Höhe herabfällt, doch imposant. Ja, danke, ich habe verstanden: Selbst ein Nichts kann in seinem Fallen noch Eindruck schinden.

Der Tempel der abgetriebenen Kindlein bei Kamakura. Erst 1999 führte Japan die Anti-Baby-Pille ein, ein Jahr später als Viagra, höre ich. So machen statt der Pharma-Industrie die Mönche der buddhistischen Klöster das große Geschäft mit dem ungewollten Leben. Die meisten Mädchen, die abtreiben lassen, sind zwischen 16 und 19 Jahre jung, heißt es. Jedes Jahr viele hunderttausend gewaltsam vermiedene Neubürger. Dabei brauchte das Land sie dringend, weil es langsam aber sicher vergreist und weil es so gut wie keine Immigration gibt. Dafür wachsen die Sammlungen von kleinen Figürchen auf den Klosterfriedhöfen. Für jedes abgetriebene Kind ein Steinfigürchen, das rund zweitausend Euro kostet. Es bekommt einen eigenen buddhistischen Namen, der rund 10.000 Euro kostet. Jeder Besuch zum Beten kostet extra, auch das mitgebrachte Kleidchen oder Mützchen für die Figur, die Süßigkeit, das Spielzeug, das man dort ablegt. Auf Abtreibungen spezialisierte Ärzte beruhigen sich selbst damit, dass sie der Schwangeren mit erhobenem Zeigefinger noch auf dem Behandlungsstuhl das Bild ihres Kindes im Leib zeigen, anschließend auch dem Beinahe-Vater das Fötus-Foto überreichen und ihm heftig ins Gewissen reden. So bleibt eine lebenslange Bindung an das unterdrückte Leben, zumal noch 43 Jahre lang für das Figürchen wie für jedes Grab ein erhebliches Entgelt gezahlt werden muss. Damit soll dem toten Wesen geholfen werden, ein Buddha zu werden, also die Vollkommenheit zu erreichen. Das ist den Leuten so wichtig, weil sie wünschen, dass das abgetriebene Kind es einmal besser hat als man selbst.

Weil der Nachwuchs fehlt, arbeiten die Japaner viel mehr als sie verpflichtet sind. Kaum Zeit, einen Teil des gesetzlichen Drei-Wochen-Urlaubs zu nehmen. Und mehr als jeder zweite Rentner arbeitet zu geringster Entlohnung als Hilfsarbeiter weiter. Was sollten sie auch sonst tun?

Japan besteht, so scheint mir, aus unbewohnbaren Bergen, diesen grünen Wellen, von Urwald bedeckt, und aus bombastischen Hochhausklumpen sowie grauen Placken von Kleinhäusern, die mit vielen Drähten aneinander gebunden sind. Die Hochhäuser stehen zwar dicht bei dicht, berühren sich aber nicht, sondern halten eigensinnig einen Abstand von etwa einem halben Meter voneinander, damit sie bei Erdbeben frei schwingen können. Dicht vor ihren Fenstern räkeln sich Hochstraßen und Hochbahntrassen, um die Eintönigkeit der Fassaden ein wenig aufzulockern.

Die japanische Schrift kommt aus dem Chinesischen. Sie soll aus rund 15.000 Zeichen bestehen, die aber niemand alle kennt. Zum Zeitunglesen – und es gibt hier unendlich viele Zeitungen und Zeitschriften – soll es reichen, wenn man 2.000 Zeichen kennt. Das ist aber kein Alphabet, denn es werden nicht Buchstaben geschrieben, auch nicht Silben, wie es manchmal scheint, sondern Bilder. Die Schrift besteht aus Piktogrammen, wobei für die meisten Begriffe zwei Zeichen verwendet werden.

Schon die Schrift zeigt: Japan, der Inbegriff der Moderne in der Technik, ist ein höchst altmodisches Land. Die Zeitungen zeigen noch den Satzspiegel, den man aus der Schrift von Uruk kennt, der Keilschrift der Sumerer, der ältesten Schrift der Welt. Senkrechte Striche teilten dort die Schreibfläche auf den Tontäfelchen in schmale Felder, sogenannte Kolumnen. In diesen Feldern wurden die Schriftzeichen untereinander aufgeführt, von oben nach unten Als die Tontäfelchen bei den Leuten von Uruk vor rund 5.000 Jahren immer größer und schwerer wurden, weil man immer mehr Schriftzeichen untereinander zu setzen hatte, konnte man die Tafeln bald nicht mehr so vor sich festhalten, vom Bauch weggestreckt. Die Arme waren zu kurz. Es war leichter, die Tafeln quer vor sich zu halten. Also drehte man sie um 90 Grad nach links. So wurde der rechte Rand der Tafel zum oberen Rand, der ursprünglich obere Rand aber zum linken Rand. Damit änderte sich auch die Schriftrichtung. Denn aus den senkrechten Zeilen mit ihrer Reihenfolge von rechts nach links ergab sich nun die Zeilenfolge von oben nach unten. Und die Schriftzeichen wurden nun von links nach rechts in diese Zeilen geschrieben und so auch gelesen. Diese Entwicklung der modernen Schrift ist bekannt. Im höchst altmodischen Japan ist man gerade dabei, diese Entwicklung mit rund fünftausend Jahren Verspätung nachzuvollziehen.

Die Tageszeitung ist noch in uralter Keilschrift-Manier geschrieben, was frühmorgens in den stets überfüllten Zügen der Vorortbahnen praktisch ist, weil man die Zeitung nicht ausbreiten muss, sondern sie zu schmalhohen Streifen zusammengefaltet lesen kann. Doch in der Überall-Reklame wird schon von links nach rechts geschrieben, natürlich auch in den vielen elektronischen Laufschriften. Das Neue funktioniert neben dem Alten, denn den Japanern fällt überhaupt nicht auf, dass sie noch in uralter Bilderschrift schreiben und dabei zwei Schreibweisen benutzen, die rund fünftausend Jahre auseinander liegen. Allerdings gibt es auch schon einmal Durcheinander. So las ich an der Tür eines Taxis die Aufschrift: IXAT.

Genau dieses Nebeneinander von Uralt und Moderne schaffen sie auch beim Essen. Die Methode, mit Stäbchen zu essen, entspricht ja dem Kunststück, das wir aus der Tierverhaltenslehre als erster Werkzeuggebrauch der höher entwickelten Affenarten kennen. Von dem Einsatz von Stöckchen als Werkzeug bis zur Entwicklung des Messers und des Löffels sind gewaltige Zeitdimensionen und geistige Entwicklungssprünge nötig gewesen. Von der noch später entwickelten Gabel ganz zu schweigen. Diesen Riesenschritt in die Moderne machen die Japaner gerade ansatzweise nach. Dabei hilft ihnen als Brücke der von den Chinesen entwickelte Suppenlöffel aus Porzellan. Und wenn sie ein Messer benutzen, ist es meist eine kleinere Ausgabe eines Samuraischwerts.

Wenn man immer wieder die Schuhe ausziehen und auf Socken herumlaufen muss, nicht nur in den Tempeln, dann erinnert das an die Verhältnisse in unseren mittelalterlichen Städten, in denen man draußen auf ungepflasterten Straßen in Abwässern und im Kot und Morast watete. Da war das Schuheausziehen vor dem Betreten einer Behausung unerlässlich. Die Japaner haben offenbar noch nicht bemerkt, dass ihre Straßen und Gehwege gepflastert und piekfein sauber sind. Wenn es sich nicht bloß um eine Geste der Unterwürfigkeit handelt.

Auch die Toiletten zeigen die erstaunliche Diskrepanz von uralt und hochtechnisiert. Selbst in dem Superschnellzug Shinkansen, diesem Wunder an Pünktlichkeit. Die sogenannten japanischen Toiletten sind wie das alte italienische Rittiratta weiterhin im Angebot, nur als Loch im Boden, über das Männlein und Weiblein sich hocken. Dabei fehlen aber sogar die Haltegriffe vor einem. Die sind nicht nötig, weil die Japaner mit dem Hocken keine Schwierigkeiten haben. Sie hocken gern und überall. Und sie sind Weltmeister im Halten der Balance. Stehen sie doch auch in der U-Bahn gern, ohne den Haltegriff zu benutzen, jede Erschütterung genauso durch leichtes Mitschwingen ausgleichend, wie ihre Hochhäuser. Im selben Wagen des Shinkansen gleich daneben die sogenannte Westernstyle-Toilette. Das ist eine Toilettenschüsseln, die den Europäern zeigen soll: Wir sind euch über. Der Sitz ist beheizt, und eine Extra-Armatur neben der Toilette lässt einem die Auswahl des Wasserdrucks und bietet die gewünschte Intim-Behandlung als Bidet oder Unterbodendusche und -föhn. Diese Wonne-Toiletten sind hier inzwischen schon Norm, auch in den Hotels und Restaurants. Ein Erlebnis für sich!

Alt und modern sind schließlich auch in der Sitz- und Schlafposition traulich vereint zu finden. Oh ja, es gibt schon Tische mit Stühlen, und es gibt Polstergarnituren, auch gibt es bereits richtige Betten. Doch daneben liebt der Japaner es immer noch, beim Essen wie unsere Vorfahren in den Hockerkulturen vor zigtausend Jahren mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden zu sitzen und bloß mit einer dünnen Matte unter sich auf der Erde zu schlafen. So auch den Touristen zugemutet, die im buddhistischen Kloster auf dem heiligen Berg Koyasan übernachten dürfen. Die Unbequemlichkeit wird ihnen allerdings durch einen Fernseher in jedem der Papierwände-Zimmer versüßt. Modernes Frömmigkeitserlebnis.

Die Japaner begeistern sich für die Natur: Im Frühling ist das Kirschblütenfest der Höhepunkt des Jahres. Die Kirschblüte steht für die Vergänglichkeit. So plötzlich sie ihren Zauber entfaltet, so plötzlich ist sie nach wenigen Tagen auch wieder verschwunden. Im November machen die Pilgerfahrten der Japanermassen zu den renommierten Plätzen der Herbstlaubfärbung diesem Fest der Vergänglichkeit auf ihre Art Konkurrenz. Dann ist der Boden zugedeckt mit dem Gold der Ginkgobäume und mit dem hineingesprenkelten Blut des Bergahorns. Das Vergehen als Augenschmeichler. Da kann ein Japaner nur noch klick, klick, klick machen.

Herbstlaubfärbung

Herbstlaubfärbung

Aber außer diesen Naturereignissen gibt es nichts Schönes zu bewundern in Japan, von manchen jungen Mädchen einmal abgesehen. Nicht, dass die Japaner einfach nur eine andere Ästhetik hätten, nein, sie haben einfach keinen Geschmack. Das zeigt sich beim Essen, dem beinahe alle Würze fehlt, und es zeigt sich bei den Bauwerken, die nicht schön sein wollen, nicht einmal den Versuch machen. Sie wollen nur ungewöhnlich sein, zumindest was die Hochhäuser betrifft. Allenfalls die wollüstig geschwungenen und hochgekrempelten Dächer der Tempelanlagen mit ihren Schnitzereien und Vergoldungen könnten nach unserem Geschmack als schön bezeichnet werden, wenn wir sie nicht einfach nur als fremdartig bewundern oder konstatieren: Jede Kultur hat ihre eigene Methode, dem Kleinen Mann zu zeigen, wie klein er ist.

Dass für die Japaner Geschmack ein Fremdwort ist, zeigt sich nicht nur beim Essen und bei den Bauwerken, das zeigen auch die Autos auf der Straße, die zwar hochtechnisiert und perfektioniert sind, aber halt nur funktional. Wer ein schönes Auto fahren will, kauft sich einen Mercedes oder BMW. Denn selbst der japanische Luxuswagen Lexus sieht auf den ersten Blick nach Opel aus.

Der Individualismus ist in Japan noch nicht angekommen. Hier ist einer wie der andere. Gerade nur der Klimbim, der am Handy baumelt, unterscheidet die Menschen ein weinig voneinander. Das hat vermutlich mit der Sprache zu tun, in der die Subjekte gern weggelassen werden. Man erkennt das Subjekt nur aus dem Kontext, muss also ständig hinter dem Zusammenhang her horchen. Was durch den Reichtum der japanischen Sprache an Synonymen nicht gerade erleichtert wird. Auf der anderen Seite gibt es diese frappierende Armut: In ihrer Sprache haben sie nicht einmal ein Wort für Mensch, sie können nur von Menschen sprechen. Das sagt doch schon alles. Der Japaner ist nur Teil eines Pluraletantums. Dieser Verleugnung des Subjekts entspricht die Selbstverleugnung des einzelnen, die soweit führt, dass er glaubt, was er sagt, wenn er als Erklärung für seine stupende Arbeitsamkeit angibt: Man muss doch für jemanden da sein.

Die Sumo-Ringer ziehen als Wanderzirkus von einer Großstadt zur anderen und machen so ihre Ausscheidungskämpfe. Stets in Riesenhallen, die aber nur noch halbgefüllt sind. Modernere Sportarten wie Baseball und Fußball machen der hehren Sumo-Tradition wirksam Konkurrenz. Das erinnert an die Sorgen der Spanier um ihren geliebten Stierkampf. Die Halle in Fukuoka bietet kein Bisschen Atmosphäre. Es gibt auch kaum Beifall, nur Schulklassen machen ein wenig Geschrei. Wer sich von einem Sumo-Ereignis ein Erlebnis voller Herzklopfen erhofft hatte, wie bei einem Sechstagerennen in Berlin, der wird enttäuscht. Wie hatte der Taxifahrer schon auf dem Weg zu der Halle gesagt: Da gehe ich nicht mehr hin, da gewinnen doch immer nur noch die Mongolen. Und tatsächlich wird selbst dem westlichen Zuschauer schon nach zwei Stunden klar: Hier findet ein Wandel statt. Sind es doch immer wieder die so imposant daher schreitenden Superdicken, die verlieren. Stramme Muskelmänner, durchtrainiert, siegen über die traditionellen Fleischberge, die ihr Gewicht einsetzen, um den Gegner aus dem Ring zu drängen oder so aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass nicht nur seine Fußsohlen den Boden berühren.

So lange schon ist sie passé, die große Zeit der Samurai mit ihrer monströsen und bunten Rüstung, die keinem Hieb der langen gekrümmten Schwerter standhalten konnte. Doch die Japaner haben immer noch die Gene dieser todesmutigen Krieger in sich. Schon wie sie den Kugelfisch Fugu zu ihrer Lieblingsdelikatesse erhoben haben, obwohl an dem Scheusal so gut wie alle Teile ein absolut tödliches Gift enthalten. Nur die geschicktesten Köche schaffen es, daraus ein Gericht zu machen, das einen nicht umbringt. Dennoch sterben Jahr für Jahr viele Japaner im Kampf an der Kugelfischtafel. Dabei kennt jeder das Gedicht: Gestern Abend saß ich mit meinem Freund beim Fuguessen, heute helfe ich seinen Sarg tragen.

Fujiyama am Abend

Fujiyama am Abend

Viel Mut gehört allein schon dazu, auf den japanischen Inseln zu leben, die beinahe ständig irgendwelche Erschütterungen bieten und von denen man weiß, dass sie hin und wieder von verheerenden Tsunamis und Erdbeben heimgesucht werden. Mutig auch, ausgerechnet einen gerade einmal pausierenden Vulkan zu ihrem Lieblingsberg zu erklären, den Fujiyama, zu dessen abgebrochener Spitze man hinauf pilgert und dessen perfekte Schönheit man preist.

Die Fahrt mit der Gondelbahn hinauf zum Bauchnabel Kyushus, nämlich dem Aso, dem gefährlichsten der vielen japanischen Spuckberge, ist für Japaner eine Selbstverständlichkeit. Die aus dem Vulkantrichter aufsteigenden giftigen Schwefeldioxydgase und der jeden Augenblick zu erwartende nächste Ausbruchs, das sind die gesuchten Reize, die das eintönige Arbeitsleben der Leute ein wenig auflockern. Immerhin hat man auch Vorsorge getroffen. Die Drahtseilbahn führt nicht hinauf, wenn die Gaskonzentration zu hoch ist, und oben stehen dicht am Kraterrand kleine Betonbunker bereit, in die man sich schnell zurückziehen kann, wenn der Berg sich übergibt. Das martialische Bild einer Mondlandschaft, es erinnert den Besucher aus Europa ein wenig an den Westwall, was aber kein Heimweh auslöst.

Am Aso-Kraterrand

Am Aso-Kraterrand

Mut zeigen die Japaner auch im Umgang mit Religionen. Sie haben die so unterschiedlichen Forderungen und Bedrohungen von Shintoismus und Buddhismus in einen Mixbecher geworfen, die Göttlichkeit ihres Kaisers dazu gegeben, das alles ordentlich durchgeschüttelt und sich dann ein Kreuz am silbernen Kettchen umgehängt, weil das so schick aussieht. Inzwischen sollen hier die amerikanischen evangelischen Sekten schon mehr Mitglieder haben als die katholische Kirche. Irgendwie entspricht das dem hier üblichen bunten Bröckchenfraß.

Der Shintoismus ist für das Leben zuständig, der Buddhismus für den Tod. So lässt sich das Leben gerecht auf die verschiedenen Priesterschaften aufteilen. Und doch machen die buddhistischen Mönche den größeren Reibach, weil sie die Beerdigungsriten und die Nachtrauer so kostspielig ausgebaut haben. Daher können die Buddhisten es verschmerzen, dass sie mit ihrer Rekreationslehre in Japan nicht so recht zum Zuge gekommen sind. Diese Vorstellung ließ sich nicht mit dem traditionellen Ahnenkult der Japaner vereinbaren. Also trösten sich die buddhistischen Mönche damit, beim Totengedenken umso schamloser absahnen zu können.

Der kategorische Imperativ des Japaners heißt: Nur nicht auffallen! Er führt konsequent zu diesem Orgasmus der Städte in Grau. Gäbe es nicht die Überall-Werbung, dieses Grau wäre kaum auszuhalten. Bei den langen Fahrten durch Vorstadtmilieus sieht alles so scheußlich aus, das wilde Bautengemisch so aufdringlich mit Werbung zugekleckert, dass man glaubt, in den USA unterwegs zu sein. Nur dass hier die Schriftzeichen der Werbeappelle meist nicht lesbar sind. Tröstlich: Ich gehöre offensichtlich nicht zur Zielgruppe.

Osaka am frühen Morgen

Osaka am frühen Morgen

Nagasaki. Der 25jährige amerikanische Pilot hat das vorgeschriebene Ziel, die Industriestadt Fukuoka am Nordwestrand der Insel Kyushu nicht finden können, weil die Stadt von dichten Wolken verdeckt war. So hat er die Bombe auf dem Rückweg zu seinem Stützpunkt Okinawa über der großen christlichen Kirche auf einem Hügel von Nagasaki abgeworfen, die er erkennen konnte. Von ihr blieb fast nichts übrig. Gegenüber diesem Hügel ist ein anderer Hügel, auf dem das Gefängnis stand. Die stabilen Mauern, die den Menschen Recht und Ordnung beibringen sollten, wurden mit einem Schlag weggefegt. Alle Gefängnisinsassen und Wärter und die Leitung fanden gleichzeitig den Tod. Das war die platte Gerechtigkeit des Gewalttäters.

Zehn Jungen in Schuluniform. Neun von ihnen tragen eine Brille. An der nächsten Ecke sehe ich sieben Jungen zusammenstehen, nur einer von ihnen hat keine Brille auf der Nase. Nicht zu übersehen: Alte und Junge und auch schon sehr Junge sind erfolgreich verglast. Die lukrative Kooperation zwischen Augenärzten und Augenoptikern sowie augenoptischer Industrie klappt hervorragend. Dagegen ist mir nur zweimal eine Zahnspange aufgefallen. Dabei ist der Überbiss beinahe üblich. Doch die Zahnärzteschaft schläft noch.

In Hiroshima und Nagasaki haben die Japaner allerlei Gedenk-Installationen verwirklicht, meist mit Hilfe ausländischer Künstler. Die Friedensmonumente in Hiroshima und Nagasaki, so gut sie gemeint sind, sie sind für meinen Geschmack doch etwas zu gewaltig ausgefallen. Alles so unmenschlich gigantisch. Nur die Hecken und Rasenflächen sind noch Leben, aber auch dieses Leben ist mit brutaler Maschinengewalt glattgeschnitten.

Der Atombomben-Dom in Hiroshima

Der Atombomben-Dom in Hiroshima

War Nagasaki für die amerikanischen Atomstrategen nur ein Verlegenheitsziel, so war Hiroshima absichtsvoll ausgewählt worden, weil dort kein Gefangenenlager mit amerikanischen Soldaten war. Pech, dass dort jedoch rund zwanzigtausend Koreaner Zwangsarbeit leisten mussten. Für diese Toten wurde erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen ein kleines Denkmal errichtet.

Die Japaner gefallen sich in der Opferrolle, weil das gleichzeitig davon ablenkt, dass sie unnötigerweise in den Zweiten Weltkrieg eingestiegen sind, ihn ebenso unnötig und unsinnig verlängert haben und dass sie selbst auch viele Kriegsverbrechen begangen haben. Diese Untaten konnten nie aufgearbeitet werden, weil hinter allen Aktionen der japanischen Generalität der Tenno gestanden hatte, der Kaiser. Der jedoch war ein Gott, und ein Gott kann nichts Schlechtes getan haben. Also gibt es keine Vorwürfe und keine Entschuldigungen, nicht einmal gegenüber den vielen koreanischen Frauen, die in die Soldatenpuffs verschleppt worden waren.

Ich sitze im 15. Stock des Sunroute-Hotels in Hiroshima am Frühstückstisch und schaue über und gegen das Hochhausensemble der Stadt, als ich gefragt werde, warum ich so feuchte Augen habe. Ob mir irgendwas wehtue? Was für eine Frage angesichts dieser Stadt, in der die größte Massenabschlachtung von Menschen in einer Sekundeneinheit geschehen ist. Ich schiebe meine feuchten Augen auf leichte Zahnschmerzen und bekomme prompt den Rat, eine Aspirintablette zu nehmen. In dem Fall nütze selbst Aspirin nichts, kann ich nur kopfschüttelnd bedauern.

Wenn in Japan von alter Kultur die Rede ist, dann geht es um den Shintoismus und den Buddhismus. Ob es auch anderes als den religiösen Wahn gab, erfahre ich nicht. Zur großen Peinlichkeit der Japaner ist ja fast alles von China hergekommen, vor allem die Schrift. Ob aber auch ein Konfuzius und Laotse, weiß ich nicht. Wie ich trotz der totalen Umklammerung mit Schrift und Laut nicht erfahre, ob es einen japanischen Plato oder Aristoteles gegeben hat. Jedenfalls soll das Wort Philosophie erst Ende des 19. Jahrhunderts in Japan angekommen sein.

Diese Menschen hier sind uns ja so ähnlich. Jedoch noch mehr als wir Deutschen sind die Japaner gelernte Untertanen: Arbeitsam, zuverlässig, anspruchslos, sauber, ordentlich und freundlich. Schon wie sie sich ständig verbeugen. Sogar der Zugschaffner verneigt sich vor den Reisenden, wenn er den Wagen betritt oder ihn verlässt. Der Straßenbahnfahrer verabschiedet jeden einzelnen Fahrgast der überfüllten Bahn mit seinem monoton gedehnten Spruch. Für diese Freundlichkeit nehmen die Menschen hier die permanente laute Beschallung im Bahnhof und in der Tram klaglos hin. Unterstützt das doch nur ihr stolzes Bewusstsein: Wir sind anders als alle anderen.

Ein atemberaubender Lärm schlägt mir beim Betreten der Spielhalle entgegen. Sicher 300 Menschen, sämtlich Erwachsene, keine Teenager, sitzen vor ihrer Maschine, die sie mit schnellen grellen Bildfrequenzen verrückt macht. Sie schieben kleine goldene Kügelchen hinein, mit der Linken, während sie mit der Rechten einen dicken Knopf bedienen, der dazu verhelfen soll, dass die Kügelchen beim Fallen von oben nach unten in die richtigen Röhrchen laufen und vermehrt als Gewinnkügelchen unten herauszuholen sind. Hauptweg und Nebenwege, fällt mir überflüssigerweise ein. Hier geht es aber um volle Konzentration und Nichtigkeiten, nämlich um goldglänzende Perlen, wie wir sie früher in Afrika den Eingeborenen geschenkt haben, um sie glücklich und leichter zugänglich zu machen für Knebelverträge und neue Gottesvorstellungen. In Plastikkörbchen, die neben und hinter dem Sitz des Spielers stehen, sammelt sich der Ertrag der Mühe. Diesen Gewinn kann er an der Kasse in einen Gutschein verwandeln, mit dem er in bestimmten, nahe gelegenen Geschäften einkaufen geht. Spiele um Geld sind verboten, doch lässt sich jedes Verbot umgehen. Ich spaziere durch die Reihen und schaue den Spielern über die Schulter, und kein Mensch beachtet mich. Dreihundert mal dasselbe Klimpergetue, dazu laute Musik, ein Wahnsinnslärm, der ja nicht nur das Signum der modernen Hölle ist – was früher das Höllenfeuer war, ist heute der Höllenlärm – , er ist auch das Transportmittel in den Rauschzustand dieser Menschenmasse. Wusste doch schon der amerikanische Drogenguru Timothy Leary, dass Lichtgeflimmer und Geräusch die klassischen Drogen ersetzen können.

Straßenszene in Nagasaki

Straßenszene in Nagasaki

Einfach in ein Etablissement zu treten, das sich Bar nennt, kann zu kuriosen Erfahrungen führen. Der kleine Raum in Nagasaki ist leer bis auf die gut aussehende Wirtin mittleren Alters. Yuko ist ihr Name, erfahre ich. Sie hat unergründlich tiefe schwarze Augen, spricht kein Deutsch oder Englisch, ich kein Japanisch. So verstehen wir uns gleich sehr gut. Und das einheimische Bier schmeckt. Als die Wirtin mir ein Gerät hinschiebt, auf dessen Display ich einige bekannte Namen und Liedtitel erkenne, entscheide ich mich für Edith Piaf. Warum nicht ein bisschen Musik hören, wenn man sich nicht unterhalten kann? Der Spatz von Paris piepst doch immer ganz angenehm. Aber die Wirtin drückt mir ein Mikrophon in die Hand und lässt auf einem großen Bildschirm den Liedtext mit Markierung ablaufen. Da verstehe ich endlich, dass ich in eine Karaoke-Bar geraten bin. Eine Winzausgabe. Oft gibt es hier Karaoke-Säle in mehreren Stockwerken übereinander. Karaoke ist neben den Glücksspielautomaten das andere Bein der japanischen Lebenslust. Ich lehne es jedoch so freundlich wie bestimmt ab, die Piafstimme zu imitieren. Mir reicht es, zu sehen, dass auch der Liedtext von links nach rechts und von oben nach unten geschrieben wird. Also nicht gerade stillschweigend, sondern lauttönend die Ankunft der Schrift in der Moderne.

Die schönen Mädchen Japans bieten einem den vierfachen Knopfaugenblick, weil die Nasenlöcher einen genauso dunkel ansehen, wie die Augen. Und darunter gleich die Warnung: Der meist dicklippige und kreisrunde Mund ist ein lockender Strudel. Wunderschön. Aber wehe, du übersiehst die drohende Zahnreihe, die hungrig gegen dich gebleckt wird. Immer wieder der Anblick dieser Mädchen mit einem Gesichtchen, wie mit liebevoller Hand aus Biskuit-Porzellan geformt. Dazu das Piepsstimmchen eines Rotkehlchens, das gerade erst flügge geworden ist. Da drängt sich einem der Wunsch auf: Die nimmst du mit. Oder aber die da oder die dort. Die kannst du dann zuhause auf den Schreibtisch setzen, als hochdekorativen Briefbeschwerer. Nur – man kriegt ja kaum noch Briefe geschickt im E-Mail-Zeitalter.

Überall bei den Tempeln wie von zarter Hand ausgestreut das Gold Buddhas, das Novembergold. Man schreitet vorsichtig darüber, will die Ginkgos nicht beleidigen, die ihre goldgelben Blätter auf uns niederwehen lassen wie von weit, mit unendlicher Gebärde, wie Rilke sagen würde.

In den weiträumigen Tempelanlagen mit ihren vielen Gebäuden gibt es auch immer den besonderen Glückshandel. Für einhundert Yen darf man eine Schachtel, in der Mikadostäbchen sind, so lange schütteln, bis aus dem feinen Loch ein Stäbchen herausfällt. Darauf steht eine Nummer, die entspricht einem der vielen Schublädchen des Schranks nebenan. Daraus das oberste Blättchen Papier entnommen, den Spruch gelesen, und schon weiß man, was das Glück mit einem vorhat. Im Allgemeinen nur Gutes, weil man ja wiederkommen und erneut zahlen soll. Doch wenn der Spruch nicht gefällt, friemelt man den Zettel so, dass er sich auf den Zaun nebenan knüpfen lässt. Das neutralisiert jedes böse Omen.

Miyajima - Das Tor des Itsukushima-Schreins

Miyajima - Das Tor des Itsukushima-Schreins

Der Himayimapark wird als eine der drei schönsten Landschaften Japans bejubelt. Dementsprechend die Menschenmenge, in der man feststeckt. Das große rote Tor, das im Wasser steht, war schon von dem Fährschiff aus zu sehen und zu fotografieren. Jetzt sind die Rehe die Attraktion, die hier herumstehen und mit lüsternen Mäulern nach allem grapschen, was essbar scheint, dabei sogar Zeitungen nicht verschmähen. Man bewegt sich zwischen den geschlossenen Reihen der Verkaufsstände mit Devotionalien und anderem Kitsch langsam weiter auf das Heiligtum zu, wie man es von Pilgerorten in Europa her kennt. Dann der Blick von der Schreinanlage hinüber zu dem roten Tor, und dahinter leuchtet in der Ferne das protzig-weiße Gebäude der neuen Sekte Soka Gakkai auf. Noch kein folkloristisches Angebot, vielmehr eine Machtdemonstration.

Wieder einmal eine Fahrt mit dem Superschnellzug Shinkansen über Land. Die Augen geschlossen, solange das Geräusch dumpf und intensiv ist, und erst aufgemacht, wenn der Klang geringer und es heller wird hinter den Augendeckeln: Wieder mal das Ende eines Tunnels. Wieder Industrielandschaft, von langen Hochstraßen durchgestrichen. Und dann dieser Klecks der grauen Dächer, die oft an den Rändern oder Ecken ein wenig schuppig hochstehen. Alle Häuschen sind mit vielen Drähten an den einzelnen Masten festgebunden, die zwischen ihnen herumstehen. Ein Netzwerk. Hinter dem nächsten Tunnel das gleiche Bild von enger Beziehung zwischen Arbeiten und Wohnen, hinter dem übernächsten auch und so weiter.

Der Shinkansen

Der Shinkansen

Viele Menschen leben ihr ganzes Dasein hindurch nur dafür, auf dem Friedhof des heiligen Berges Koyasan beerdigt zu werden. Berge sind für Japaner ohnehin Metaphern fürs Sterben, aber hier auf dem Friedhof Okunoin sind Kaiser und Shogune beerdigt worden. Am hintersten Ende eines langen Tals, das in die Berglandschaft hinauf klettert, wo rund tausend Männer und Frauen in ihren buddhistischen Klöstern leben, in diesem letzten Zwickel liegt der größte buddhistische Friedhof Japans. Rund eine halbe Million Gräber von Leuten, die sehr viel Geld dafür zahlen, dort unter den zweihundert- bis dreihundertjährigen Zedern begraben zu werden. Der Grund für die Beliebtheit dieses Platzes ist: Ein Buddha namens Kôbô-daishi soll dort in einem fast immer fest verschlossenen Gebäude auf seine Auferstehung warten. Wenn er eines Tages hervortritt, dann will man ihm nahe sein. Für diese Chance lassen sich viele Menschen an ein bestimmtes Unternehmen binden, das ihnen als außertarifliche Leistung schon bei der Einstellung die Beerdigung auf diesem Friedhof verspricht. Eine Kaffeefirma kann das mit dem großen Gemeinschaftsgrab demonstrieren, auf dem eine übergroße steinerne Kaffeetasse steht, eine Raketenfirma macht das gleiche mit einer riesigen Rakete.

Bei der Fahrt zwischen den grünen Hügeln hinauf zu dem Kloster-Gästehaus bei dem Friedhof Koyasan, zuerst mit einem Vorortzug, dann mit einer Seilbahn und schließlich noch mit einem Bus, genießt man die Innenansicht des japanischen Urwalds. Laub- und Nadelbäume bunt gemischt. Im Vorbeisausen zu erkennen: Zwischen vielen unbekannten Laubgehölzen stehen Kiefern und Fichten oder Tannen, Zedern, Palmen, Rhododendron, Lebensbaum, Bergahorn, Ginkgo, Bambus und Kirsche.

Kyoto, die alte Kaiserstadt Japans, heißt übersetzt Stadt der Städte. Es ist schachbrettartig angelegt, nach dem Vorbild von Schanghai. Der Kaiser ist im Jahre 1868 nach Tokyo übergewechselt, um sich dem zu starken Einfluss des Buddhismus zu entziehen. Kyoto ist eine Stadt der Parks und Tempel und hat einiges mit Heidelberg gemeinsam. Es gibt hier einen Philosophenweg, und es gibt die Genugtuung darüber, dass die Stadt, zunächst als Ziel für den Atombombenabwurf  vorgesehen, wegen ihrer überragenden kulturellen Bedeutung im Zweiten Weltkrieg vor der Zerstörung bewahrt wurde. Das Wahrzeichen der Stadt ist der dreigeschossige Goldene Pavillon.

Im Ryoanji-Tempel fand ich an einem alten Waschbassin einen Kommentar zu der deutschen Hochschulpolitik, die gerade dabei ist, Wilhelm von Humboldt zugunsten wirtschaftlicher Interessen aus den Unis zu vertreiben. Stand da doch in Stein gemeißelt: Ich lerne nur, um von Zufriedenheit erfüllt zu sein. Aber das ist Zen-Weisheit, viel zu hoch für deutsche Politiker und Wissenschaftsmanager.

Mit zum touristischen Pflichtprogramm gehört auch der große Tempel des Sehnens nach der Aufnahme in die Gebärmutter des Göttlichen. Er hat den größten Steingarten. Mit Steinsetzungen aus gewaltigen Klötzen und liebevoll geharkten Kiesfeldern zwischen den Hinkelsteinen. Wer es auch sei, der da seine Zeit damit verbringt, die feinen Steinchen in Reih und Glied antreten zu lassen, er wird sich damit rechtfertigen, dass er beim Rechen meditiert. Ist Meditation doch die ideale, weil nicht überprüfbare Auszeit des Homo faber. Den Touristen tut beim Meditieren mit nur halbwegs untergeschlagenen Beinen schon nach zehn Minuten alles weh, und der recht rundliche Sohn des Abts entlässt sie voller Verständnis aus der strengen Zucht. Seiner Familie gehört dieser Tempel seit hundertfünfzig Jahren, erfährt man im Gespräch. Er hat sein erstaunlich gutes Englisch von seinem Studium in den USA mitgebracht.

Viele Pilger in ihren einheitlich weißen Pilgerhemdchen mit der senkrechten Beschriftung im Rücken, den Pilgerstab in der Hand, machen auf ihrer langen Pilgerreise quer über die Halbinsel Kii hier Station und beten leise murmelnd, die Hände gefaltet, die dabei eine mehrfach geschlungene Gebetskette halten. Nur wenn sie ihre Opfermünzen in den metallenen Kasten mit dem breiten Rost obenauf werfen, wird es laut.

Beim japanischen Essen der Auftritt einer Maiko, also einer Art Geisha-Aspirantin. Sie ist 18 Jahre alt und hat gerade anderthalb Jahre der fünfjährigen Ausbildung zur Geisha hinter sich gebracht. Ihr Name ist Fumikama, und sie ist noch so zugänglich, dass sie einem sogar zulächelt und sich auch mit einem fotografieren lässt.

Die Maiko Fumikama

Die Maiko Fumikama

Die alte Fabel von Fuchs und Storch, die sich gegenseitig zum Essen einladen und sich dann ein Essgeschirr vorsetzen, mit dem sie nichts anfangen können, für den einen zu tief, für den anderen zu flach, hier in Kyoto im Palast des Tokugawa-Shogunats könnte sie mit anderem Getier als Gastgeber erzählt werden, nämlich mit Kranich und Schildkröte, den beiden Symboltieren dieses Parks. Die Shogune, reich und selbstherrlich gewordene Generäle des Kaisers, erinnern den modernen Zeitungsleser an die Warlords in Afrika oder Afghanistan. Doch lenkt das vom touristischen Genießen ab.

Die Teezeremonie diene nicht dem Teetrinken, werden wir belehrt. Sie sei vielmehr ein Ereignis der Sammlung in einer kleinen Versammlung. Viele unterschiedliche Schalen, je nach Jahreszeit und nach der Dickflüssigkeit des grünen Tees. Der Teekessel aus Gusseisen steht in einer Grube in heißem Sand. Zum Glück bekommt man nur einen kleinen Schluck von dem lange mit dem Schneebesen sämig geschlagenen Tee zu trinken, braucht also nur ein einziges Mal das Gesicht zu verziehen, weil das Zeugs so scheußlich schmeckt.

Der Besucher kommt auf abwegige Gedanken, wenn er sieht: Burgen und Paläste mit ihrem pagodenartigen Bau und den geschwungenen Dächern, so eindrucksvoll aus gewaltigen Baumstämmen gebaut und auf hohen Mauern aus schweren Quadersteinen stehend, sie sollten uneinnehmbar sein. Dabei hätte ein Brandpfeil genügt, alles in Asche zu verwandeln. Und Free Climbers hätten ihre helle Freude an den hohen, schrägen Mauern, die sie im Eiltempo erklimmen würden. Aber vermutlich standen auch damals schon überall die Schilder: Please don’t touch!

Hier gibt es berühmte Tempelanlagen, die nur wegen der Herbstlaubfärbung die Menschenmassen anziehen. Wir Europäer würden niemals auf die Idee kommen, dafür weite Reisen zu machen. Für uns ist die Verfärbung des Laubes immer noch das Absterben, obwohl wir wissen, es ist nur das Schlafengehen. Aber die Japaner pilgern genauso eifrig zur Kirschblüte im Frühling, dem Fest der Vergänglichkeit, für uns so schrecklich rationale Europäer bloß die Vorstufe zur Ernte.

Die Japaner, so stolz darauf, anders zu sein, müssen wir nehmen, wie sie sind – sie uns Touristen ja auch. Mit ihrem Balancieren zwischen vorgestern und morgen und mit ihrem Wunsch, nur ja nicht aufzufallen, sind sie tatsächlich völlig anders als wir. Wie denn auch sollte sich Individualität entwickeln in diesem Land, das sich erst mit großer Verspätung für die Welt geöffnet hat, das die Aufklärung nicht erlebte und in dem alles so riesig hoch und imposant gebaut wird, dass die Menschlein auf Ameisenformat reduziert werden. Die Japaner leben in einem Ameisenstaat, der gut funktioniert, weil die einzelne Ameise zuverlässig fleißig und gehorsam ist, sauber und höflich und rücksichtsvoll und manchmal genial.

Dass man sich zwischen den Japanern so sicher fühlen kann, verdanke man der allgegenwärtigen japanischen Mafia, so hörte ich. Und stellte mit Schrecken fest, dass ich mich vor ihren Bossen, die nur immer im schwarzen Mercedes oder BMW daherrasen, durch einen schnellen Sprung zur Seite retten musste. Dabei war ich so zufrieden, dass niemand die Ameisenburg zertrat, solange ich mich in ihr hin und her treiben ließ, das heißt: dass die Erdplatten sich nicht wie Sumo-Ringer wegzudrücken versuchten, das Meer nicht mit einer Kurosawa-Welle über die Küste herfiel, und die Berge mich nicht mit ihrem Feuermaul verschluckten.

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