Umberto Eco: Baudolino

Das Hohelied der Lüge

(Umberto Eco: Baudolino, Roman, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, dtv, München 2003, 636 Seiten, 12,50 Euro)

Mit seinem historischen Roman „Der Name der Rose“ hatte Eco die achtziger und neunziger Jahre bestimmt. Damals hieß sein Erfolgsrezept: Krimi im historischen Gewand. Als das Interesse der Öffentlichkeit sich den Erklärungen der Naturwissenschaften zu den letzten Wahrheiten zuwandte, brachte er „Das Foucaultsche Pendel“ auf den Markt. Und mit „Baudolino“ bedient er nun sowohl den krimi- als auch den Fantasy-Massenwahn, zumindest in der zweiten Hälfte dieses Buches. Wobei er gleichzeitig in überlegener Großzügigkeit den Entwicklungsroman, den Abenteuerroman und den Schelmenroman durchspielt. Soviel zu der Marktgängigkeit seiner Buchproduktion. Eine Feststellung zur Vielseitigkeit des Autors, die selbstverständlich keine Herabsetzung seiner Werke ist. Es geht ja hier darum, den literarischen Wert des Buches zu eruieren, nicht um eine der üblichen Rezensionen, die vor allem vollmundige Sprüche bringen, in der Hoffnung, daß der Verlag sie als Zitate in seiner Werbung einsetzt, so daß man was für die Eigenwerbung getan hat.

Der Roman „Baudolino“ ist ein Roman übers Erzählen und übers Lügen, was dasselbe ist, und damit auch ein Roman übers Schreiben von historischen Romanen. Ein besonders aufgeweckter italienischer Junge namens Baudolino, zufällig aus Ecos Geburtsstadt Alessandria in Piemont stammend, fällt dem Kaiser Barbarossa auf einem seiner vielen Italienzüge auf, wächst ihm ans Herz und wird von ihm wie ein Sohn aufgezogen. Dabei ist der Junge ein schamloser Lügner, einer von der Art, die ihre Lügen und ihr Wunschdenken schon für die Wirklichkeit halten. Baudolino gelingt es, den Kaiser von den ewigen Streitigkeiten mit den oberitalienischen Städten abzulenken und für den Kreuzzugsgedanken zu begeistern und für ein noch wichtigeres Ziel, das dahinter liegt: den Besuch im sagenhaften Reich des Priesterkönigs Johannes, der irgendwo im fernen Osten lebt. Was er dem Kaiser Friedrich als die Chance schmackhaft macht, endlich den Machtstreit mit der Kirche zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Auf dieser Reise geht der historische Roman verloren, als der Kaiser einem Mordanschlag zum Opfer fällt, statt einem Badeunfall, wie es in den Geschichtsbüchern heißt. Damit wird Geschichtsschreibung zum Ergebnis des Einfallsreichtums der Historiker und zum Abenteuer. Auch sich auf mehr oder weniger geschickt gemachte Urkundenfälschungen zu stützen gehört zu diesem Abenteuer. Fiktionen erweisen sich als wirkmächtiger denn die Tatsachen. Der Leser versteht: Die sogenannte historische Wahrheit ist immer eine willkürliche Konstruktion. Was ja mittlerweile zu dem Eingeständnis der Historiographie geführt hat: Die historische Forschung kann mit der Wirklichkeit nie hundertprozentig zur Deckung gebracht werden. Hatte Viktor von Scheffel 1855 im Vorwort zu seinem historischen Roman „Ekkehard“ noch vorsichtig argumentiert, die Geschichtsschreibung benötige auch Phantasie, geht Eco weiter, indem er die Grenze zwischen Historizität und Faktizität ständig verwischt. Schließlich wird sein Historiengemälde zur Aufforderung, sich das Unwahrscheinlichste vorzustellen, um der Wirklichkeit näherzukommen. Denn die Frage nach dem Mörder des Kaisers wird nicht nur zur typischen Whodunit-Untersuchung nach bester Krimiart, auf dem weiteren Weg Baudolinos und seiner Freunde nach Osten führt sie in bunte Fantasywelten, die von allerlei Kuriositäten bewohnt sind. Da gibt es Anklänge an den Gral und an die Assassinen sowie den Vestalinnenkult. Die Hunnen treten auf, und Lepröse leben neben Geschöpfen, die aus der Werkstatt von Hieronymus Bosch stammen könnten. Es geht immer mal wieder um hochwichtige Fragen von so absurder Spitzfindigkeit, wie sie jahrhundertelang die scholostischen Gelehrten des Mittelalters beschäftigt haben, und das Schwelgen im Reliquienkult nimmt schon kabarettistische Formen an. Schließlich bringen Riesenvögel à la Tausendundeinenacht die Reste dieser Expedition zum unauffindbar gebliebenen Priesterkönig Johannes nach Konstantinopel zurück. Und die Krimifrage findet eine Auflösung, die so unwahrscheinlich war, daß man als Leser nie darauf kommen konnte. Dabei ist sie überraschend plausibel.

Das umfangreiche Epos verlangt geduldige Leser. Die dabei auch noch besonders aufmerksam sein müssen. Denn das Ganze ist in die Form eines Gesprächs gegossen, das Baudolino mit einem Griechen namens Niketas führt, bisher oberster Richter und Kanzler am Hofe von Byzanz. Baudolino rettet ihn, als Konstantinopel im Jahre 1204 von einem Kreuzzugsheer geplündert und zerstört wird. Der Autor setzt seinen Erzähltext und die Dialoge in diesem Text unbekümmert in den immer mal wieder aufflackernden Rahmendialog. Und wie er das Ganze dann mit willkürlich herangezogenen Versatzstücken der abendländischen Kultur spickt, das kennzeichnet den Roman als ein typisch postmodernes Werk. Das geht auch mal daneben, so wenn Leute als Pfeifenköpfe beschimpft werden. Doch gibt es dem Autor Gelegenheit zu köstlich ironischen Ausfällen, so bei der Schilderung der Verhältnisse im Land Pndapetzim, wo die Besucher so „selig entnervt und glücklich gelangweilt“ sind, daß sie uns wie Fernsehdauerkonsumenten erscheinen. Eine Kritik, die sich ein Autor erlauben darf, der im letzten Satz seines Romans sich selbst auf unnachahmlich feine Weise auf den Arm nimmt. Deshalb: Wer Zeit genug hat, der sollte sie sich für den Genuß dieses Buches nehmen. Es lohnt sich.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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