Smoke

(Smoke, USA 1995, 112 Minuten, Drehbuch: Paul Benjamin Auster und Wayne Wang, Regie: Wayne Wang)

Ist der Film schon nur die kleine Schwester der Wirklichkeit, so ist dieser Film ihr völliges Verschwinden hinter einer Wand von Schall und Rauch. Aber einer dezent wirkenden Wand, die es niemals laut werden lässt und mehr aromatischen Genuss bietet als beißendes Kratzen in den Atemwegen. Dabei hüllt der Tabakrauch die Menschen ein, dass sie wie in einem Kokon aus der Alltagswelt herausgenommen erscheinen. Fünf Menschen, denen die fünf Episoden dieses Films gewidmet sind.

Der zentrale Ort ist ein kleiner Tabakladen in einem großen Eckhaus in Brooklyn, von Auggie Wren geführt, einem Gemütsmenschen und Freund seines Stammkunden Paul Benjamin. Dieser Auggie ist über seinen Laden hinausgewachsen, seitdem er sich angewöhnt hat, jeden Morgen um acht Uhr von gegenüber ein Foto des Gebäudes zu machen, in dem sein Geschäft sich befindet. Als er die in Alben eingeklebten Bilder seinem Freund Paul zeigt, stößt er auf völliges Unverständnis. „Ist doch immer dasselbe“, tut Paul ihn ab. Bei einem Schriftsteller eine nicht ganz glaubhafte Reaktion. Tatsächlich gibt es nicht nur immer wieder anderes Wetter und anderes Licht zu sehen, es sind auch ständig wechselnde Menschen und Fahrzeuge mit eingefangen. Mehrmals sogar die bei einer Schießerei umgekommene Frau von Paul. Zumindest das beeindruckt der Schriftsteller.

Der Tabakhändler ist der einzige Mensch, der mit den übrigen vier Personen dieses Films zu tun hat. Mit dem farbigen Straßenjungen Rashid, der durch sein beherztes Eingreifen den zwar bekannten, aber seit dem Tod seiner Frau an einer Schreibblockade leidenden Schriftsteller Paul davor bewahrt, von einem Truck überfahren zu werden, und daraufhin von Paul in seine kleine Wohnung aufgenommen wird. Mit Ruby, der einäugigen ehemaligen Geliebten des Tabakhändlers, die seine Hilfe braucht, nicht für sich, sondern für die angebliche gemeinsame Tochter, die drogenabhängig und schwanger ist. Und mit Cyrus, dem einarmigen Inhaber einer verkommenen Autowerkstatt mit Tankstelle, der keine Kundschaft hat, bei einem Autounfall seine Frau verlor und von Rashid als sein Vater erkannt wird.

Alle fünf „Helden“ ihrer Episode leiden jedoch nicht an dem, was ihnen vordergründig fehlt, ein Arm, ein Auge, Kreativität, Wohnung oder Geld. Das sind Moläste, mit denen sie offensichtlich fertigwerden. Dahinter steht bei allen das Leiden an einem fehlenden Objekt der Liebe. Also der ideale Ausgangspunkt für einen Film mit einer Katastrophe nach der anderen oder mit mehrfachem Happy End. Aber nichts da, der Film versagt sich beidem und bleibt ein Ausschnitt aus dem alltäglichen Leben, von dem niemand weiß, wie es sich weiter entwickelt.

Ein banaler Ausschnitt eigentlich, der aber überhöht wird durch die Geschichten, die sich die Akteure erzählen. Paul berichtet dem Tabakhändler von der Wette, die Sir Walter Raleigh mit der britischen Königin Elisabeth I. eingegangen war, dass er das Gewicht des Rauches einer Zigarre bestimmen könne. Cyrus erklärt Rashid, dass Gott eines Tages den Einfall hatte, ihn zu alkoholisieren und ihn dann in ein Auto zu setzen, mit dem er prompt einen schweren Unfall machte, bei dem seine Frau getötet wurde, wobei Gott es aber damit genug sein ließ, ihm nur die untere Hälfte eines Armes zu nehmen, und dann noch bloß des linken. Ruby macht ihrem ehemaligen Geliebten Auggie klar, dass sie ihm vor gut achtzehn Jahren eine Tochter geschenkt habe, die ihm gleiche und ihn gerne sehen möchte, die aber schwanger sei und nur durch eine Drogenentziehungskur gerettet werden könne. Der junge, aber clevere Rashid täuscht alle Kontaktpersonen mit seinem falschen Namen und seiner erfundenen Biografie als ein Habenichts ohne jeden Anhang.

Als Paul dem Tabakhändler gesteht, dass die „New York Times“ ihn gefragt habe, ob er kurzfristig eine Weihnachtsgeschichte liefern könne, er aber keine Idee habe, erzählt Auggie von dem Diebstahl, der ihn in den Besitz der Kamera gebracht hat, und von seinem Wiedergutmachungsversuch, bei dem er ein Weihnachtsessen mit einer blinden Alten erlebt hat, die ihn für ihren lange erwarteten Neffen hielt und sogar noch bei ihrem Irrtum blieb, weil das so schön war, als sie längst erkannt haben musste, dass er nicht der Neffe war.

Das ist der Sprung in die Wirklichkeit. Der Rauch verzieht sich, wenn man weiß, dass sich hinter der Filmfigur Paul Benjamin der 1947 geborene amerikanische Schriftsteller Paul Benjamin Auster verbirgt. Der tatsächlich diese Kurzgeschichte am ersten Weihnachtstag 1990 in der „New York Times“ veröffentlicht hat, die ihm im Film sein Freund Auggie als selbst erlebt vorgeflunkert hat, und zwar unter dem Titel: „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“. Damit ersteht vor den Augen des Filmbetrachters eine Transformation von einer Kunstform in die andere. Die eine so episch wie die andere und genauso neben der Wirklichkeit liegend – aber sie auf wunderbare Weise ergänzend.

Der chinesische Regisseur Wayne Wang hatte die Kurzgeschichte in der Zeitung gelesen und daraufhin Paul Auster vorgeschlagen, daraus ein Drehbuch zu machen. Mit geringstem Aufwand, ohne Stars und gelegentlich sogar mit Handkameras, entstand ein Independentfilm, der das gefährliche New Yorker Milieu so liebevoll schildert, dass es sich wie Rauch verflüchtigt und lauter liebenswerte Leute hinter dem Vorhang sichtbar werden lässt. Was aus ihnen wird, bleibt jedoch eine offene Frage. Denn dieser Vorhang ist die weiße Kinoleinwand, die bietet, was sie bieten soll: Gute Unterhaltung.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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