Ruf der Wildnis

(The Call of the Wild, USA 1996, 85 Min., Regie: Peter Svatek, Drehbuch: Graham Ludlow nach dem gleichnamigen Roman von Jack London))

Scheinbar einfach nur das Porträt eines Hundes, angefangen mit der hochherrschaftlichen Jugend des zotteligen Tieres in Kalifornien. Der Mischling aus Bernhardiner und Schäferhund wird gestohlen und an einen Menschen verkauft, der darin das Talent zu einem Schlittenhund erkennt. So wacht Buck, das ist der Name des Hundes, eines Tages hoch im Norden auf, am Klondike in Kanada und lernt erstmals Schnee kennen. Es ist die Zeit des Goldrausches, der 1896 ausgebrochen war. Der Hund Buck hat Glück, denn ein kanadischer Postkurier kann ihn für sein Schlittengespann brauchen. Ein Mann, der mit Hunden umzugehen und die ungewöhnliche Kraft Bucks zu schätzen weiß. Der Hund, der bald sein Leittier wird, ermöglicht ihm sogar Kurierfahrten in Rekordzeiten. Doch als nach einer solchen Gewalttour sofort der nächste Auftrag ansteht, muss er auf das erschöpfte Tier verzichten und mit frischen Hunden losziehen.

Damit beginnt die dritte Episode in Bucks Leben. Diesmal ist er im Gespann vor einem völlig überladenen Schlitten, der zwei Männern und einer Frau gehört, die durch die eisige Wildnis ziehen, aber völlig unerfahren sind. Er wird von seinem neuen Besitzer brutal geprügelt, als er Gefahr wittert und nicht weiter will. Ein einsamer Goldwäscher bewahrt ihn im letzten Moment davor, erschossen zu werden. Die drei Greenhorns ziehen ohne ihn weiter und versinken gleich darauf im gebrochenen Eis eines Sees, den sie überqueren wollten.

Nach den Episoden des Verwöhntseins und der Brauchbarkeit sowie des Missbrauchs kommt als vierte Episode in Bucks Leben die der innigen Freundschaft zwischen Mann und Hund. Das gute Verhältnis wird jedoch etwas gestört von der Umtriebigkeit, die Buck, aus dem Geschirr des Hundeschlittens befreit, entwickelt. Dem Ruf der Wildnis folgend, rennt er in langen Streifzügen durch den Winterwald und findet dort wilde Partner. Er kommt aber immer wieder zu dem Goldwäscher zurück. Als der von einem Indianer mit zwei Pfeilen erschossen wird, kann Buck das nicht verhindern, doch beißt er den Feind tot, ehe er endgültig in die Wildnis verschwindet, wo er der Anführer und Stammvater eines Wolfsrudels wird.

Das Ganze ist ein Kommentarfilm mit nur wenigen Dialogen. Und diese Kommentartexte sind Texte aus dem 1903 erschienenen Roman des Autors Jack London (1876-1916). Er hat diese Geschichte so penetrant anthropomorph erzählt, alles immer derart direkt mit menschlichen Eindrücken, Regungen und Gefühlen bestückt, die er dem Hund in den Kopf gibt, dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Vielleicht sollte man beides lassen und stattdessen annehmen, dass Jack London mit dieser Projektion auf und in den Hund etwas über uns Menschen sagen wollte. Einem Schriftsteller von Format darf man wohl unterstellen, dass er mehr bieten will als lediglich die Schilderung eines dramatisch verlaufenen Hundelebens und einer wilden Landschaft.

Auf diese Vermutung muss man schon kommen, wenn der Autor gleich zu Beginn von Bucks Schlittenhund-Karriere den Hund darüber räsonieren lässt, dass die anderen Hunde nur die eine Ambition kennen, stets schön in der Spur zu bleiben. Da spricht der nicht angepasste Autor aus dem Hund. Und der merkwürdige Ehrgeiz Bucks, es von der vierten Stelle im Gespann zum Leithund zu bringen, ist ebenfalls mehr menschlich als hündisch, genau wie Bucks Dankbarkeit dafür, dass der Goldwäscher den Mann mit dem Prügel daran gehindert hat, ihn zu erschießen.

Nur wenn man den Film so sieht, kann man die so schrecklich nebbich klingenden Äußerungen über das Hundeleben ertragen, über das Sich-Durchsetzen als Überlebenstechnik und das Fehlen von Gnade in der Wildnis, in der nur das Gesetz vom Fressen oder Gefressen-Werden gilt. Jack London hat den Goldrausch am Klondike selbst erlebt, und er hat gesehen, wie der Mensch alle Kultur verloren hat und auf einmal ein Stück Wild in der Wildnis war. So gesehen und so verstanden, ist Jack Londons Roman genau wie der Film nach dem Buch sogar wichtig und von zeitloser Aktualität, nämlich mit der hintergründigen Aussage: Der Rückfall ist jederzeit möglich. Der Goldrausch ist hier als nur einer der vielen möglichen Rauschzustände gezeigt, die das Kulturwesen Mensch bedrohen. Und selbst die Zeitgenossen, die in sogenannten normalen Verhältnissen leben, können vermuten, der Autor habe mit dem instinktiv empfundenen Ruf der Wildnis, den Buck hört und dem er über Stock und Stein folgt, etwas über den Mann gesagt, der selbst in seinem Alltag genau wie Buck die Jahrtausende der Domestizierung auf einmal vergessen kann.

Also ganz sicher kein Film nur für Hundefreunde und auch nicht einfach ein Abenteuerfilm, sondern werkgetreu und perfekt filmisch umgesetzte hohe Literatur. Kein Wunder, dass der Roman schon fünf Jahre nach seiner Erstveröffentlichung (1903) das erste Mal verfilmt wurde und seitdem insgesamt sieben Mal.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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