Resteverwertung in der Westtürkei (2014)

 

Istanbul. Den Besucher empfängt eine Textilorgie: Die türkische Flagge da und dort und überall, an Gebäuden und Schiffen und einsamen Riesenmasten, in Formaten, die mit Fußballfeldern rivalisieren. Und das ohne jeden besonderen Anlass. Kein Feiertag, kein     Jahrestag, einfach nur, weil das Flattern so schön ist. Die Flagge zeigt die schmale Sichel des abnehmenden Mondes mit dem Abendstern gegenüber, allerdings, wenn der Wind sich dreht, den zunehmenden Mond. Eine Wetterwendigkeit, die den Abendstern nicht zu beeindrucken scheint. Er sieht über alles hinweg, was früher einmal war, über Altgriechisches und Byzantinisches, über Römisches und Frühchristliches, und leuchtet nur für das Land des Propheten.

In der Hagia Sophia

In der Hagia Sophia

Der türkische Reiseleiter spricht von 1,9 Millionen Jahren Geschichte der Türkei. Da kommt man sich verdammt jung vor. Eine Reise als Jungbrunnen. Wenn man es einfach hinnimmt, dass der begeisterte Jungtürke alles Volk mit umarmt, das vor den im hohen Mittelalter aus Asiens Weiten eingedrungenen Turkvölkern diesen Platz an der Sonne bewohnt hat.

Eine kleine Schiffstour auf dem Bosporus, das heißt rein in eins der vielen Ausflugsschiffe, die alle gleich aussehen und umeinander navigieren, als wollten sie sich überhaupt nicht von den Schwesterschiffen trennen. Dabei geht es doch hinunter bis zu der Meerenge, die von zwei Burgen rechts und links flankiert wird. Das mit rechts und links wird schnell zum Problem, weil die Lautsprecheranlage nicht nur so schlecht ist wie gewöhnlich. Das viele rechts sehen Sie und wenn Sie die Blicke jetzt nach links richten ist wenig aufschlussreich. Sitzen die Fahrgäste sich doch an langen Tischen gegenüber, also teils in Fahrtrichtung, teils dagegen. Was aber nichts macht, denn der Reiseleiter, der die Hinweise ins Mikrophon spricht, versucht auszugleichen, indem er freundlicherweise rechts nennt, was er links sieht, und umgekehrt. Ein Glück nur, dass rechts und links hier keine politischen Äußerungen sind. Denn das könnte Probleme machen.

Immer wieder eindrucksvoll, ihre Behäbigkeit, die Madame Moschee, wie sie da sitzt und ihre Rundungen präsentiert. Flankiert oder umringt ist die Matrone von ein bis sechs sehr stolz aus dem Boden sprießenden Ablegern, die in den Himmel zeigen wie verkörperte Ausrufezeichen. Manch kleinere von diesen Matronen erkennt man als solche überhaupt nur durch die sie begleitende Dauererektion eines Minarettchens.                        

Auf der Busfahrt entlang der Dardanellen auf der Halbinsel Gallipoli sind noch Reste einer Art Westwall zu sehen. Bunker und Militäranlagen und hohe Antennen machen rücksichtslos aufmerksam – Augen rechts! – auf die griechischen Inseln in Sichtweite. Der Feind schläft nicht.

Der erste Höhepunkt einer Westtürkeitour ist natürlich Troja. Entsprechend tief ist das Gefühl der Enttäuschung, wenn man in dem hügeligen Gelände nichts zu sehen kriegt außer Grabungslöchern und aus dem Erdreich herausgekratzten Mauerstücken. Zehn Siedlungen übereinander sollen das sein. Aber zehnmal Null ist Null, bleibt Null, singt es in mir. Und dann noch zu erfahren, dass die ganze tolle Kriegsgeschichte, die Homer erzählt, vermutlich nur Fiktion ist. Und Heinrich Schliemann hat wohl auch gepfuscht mit seinem angeblichen Schatzfund. Schon eine Erlösung, dass da wenigstens ein großes hölzernes Pferd auf freiem Platz herumsteht, von Filmarbeiten übriggeblieben. Wenigstens etwas zum Knipsen. Dann nur noch die Toilette finden und nichts wie weg.

Die türkische Nordägäisküste hat viele ehemals schöne Buchten. Am Golf von Edremit gegenüber von Lesbos haben sie sich so einheitlich feingemacht wie Amerikanerinnen am frühen Morgen: Auf jedem Kopf die Röllchen im Haar. Hier sind das die Warmwasserbereiter auf jedem Dach der abertausend Ferienhäuschen im Katalogformat. In den 90er Jahren gebaut, als das die einzig sichere Methode zu sein schien, der Inflation zu entkommen. Bis auf die Rohbauruinen immerhin ein modernes Ferienbild, so einladend wie ein Bikini mit nichts drin.

Palmen, Palmen, Palmen, für uns Touristen nach wie vor das Signet des Paradieses. Doch wenn ich genauer hinschaue, fällt mir auf, dass nirgends auch nur einer von den welkenden Wedeln zu sehen ist. Nichts Graubraunes, nichts Herabhängendes. Schon was demnächst zu erlahmen droht, ist fürsorglich weggeschnitten. Bloß das jugendliche Grün lässt man wehen. Mein Gott, was für ein intolerantes Gesellschaftsbild wird da sichtbar. Wenn meine Mitreisenden im Bus das bemerken würden, wenn sie sich selbst als längst weggeschnitten sehen könnten, dann müssten sie die Kameras einpacken.

Die beiden Toilettentüren des Restaurants tragen nicht nur die Bezeichnungen Bay und Bayan. Man weiß, wie wenig Sprachkenntnisse die Touristen haben. Deshalb ist auf der einen Tür noch eine qualmende Pfeife abgebildet, auf der anderen ein hochhackiger Damenschuh. Trotzdem ist das für unsere Reisegesellschaft falsch, denn keiner der Herren raucht Pfeife, und keine der Damen trägt hochhackige Pumps. Und doch ist dieser Service besser als der in einem anderen Lokal, wo auf der einen Tür Bay stand, zusammen mit einem kleinen Bild einer Moschee und auf der anderen Tür Bayan mit ebensolcher Moschee, doch beide Türen nicht zu den Toiletten führten, sondern zu getrennten Beträumen. Hoppla, gerade noch mal gut gegangen.

Pergamon ist ein Berg mit Kabinenbahn, die zu viel herumliegendem Gestein hinauf führt, zu zahlreichen zerbrochenen Säulen und allerlei dachlosem Gemäuer. Was da in früheren Jahrhunderten alles verehrt wurde, wer da alles seine Macht ausgeübt hat, wem alles man huldigen und Opfer bringen musste, da ist es schon fast ein Trost, dass nur noch diese verstreuten Brocken übrig geblieben sind. Nicht einmal eins von den Büchern aus Pergament, der genialen Innovation dieses Ortes, kriegen wir gezeigt. Wer etwas Zusammenhängendes sehen will, ist sowieso darauf angewiesen, nach Berlin zu fahren, ins Pergamonmuseum, wo der große Zeusalter aufgebaut wurde, der hier auf dem Berg gestanden hatte.

Ephesus hat mehr in Stein konservierte Historie als jeder andere Ort, so scheint es. Theater und Gemeinschaftslatrine, diverse Tempel und ein Endlos-Boulevard. Kein Wunder, dass die Leute hier den Apostel Paulus, der dreist eine neue Religion propagierte, beinahe gesteinigt hätten. Er konnte sich noch glücklich davonmachen. Anders Herostratos, der im Jahre 356 v.u.Z. den Tempel der Artemis angezündet hat. Man will ihm bis heute den angestrebten Erfolg nicht gönnen, den Nachhall seines Namens. Nein, sagt unser türkischer Reiseleiter, der Brand ist durch Unvorsichtigkeit und Streitereien der Priesterschaft entstanden.              

Wem wäre der Mäander kein Begriff. Der Prototyp eines Flusses in Freilandhaltung. Aber dass es hier einen großen Mäander gibt und einen kleinen, das ist doch eine ergänzende Information, für die allein sich die Reise in die Westtürkei schon lohnt.

Izmir ist mir zu zersiedelt. Da wie da und auch dort wie dort immer wieder neue riesige Komplexe von gleichartigen Wohnblocks. Für Menschen, die in Steinkommoden abgelegt werden wollen, Schublade für Schublade wohl gefüllt. Mal acht Stockwerke hoch, mal achtzehn oder noch mehr. Doch dazwischen immer wieder Hügelpartien, die noch grün behaart sind und offensichtlich darauf warten, demnächst zur übervölkerten Glatze veredelt zu werden. Beim Durchfahren der Stadt, die überhaupt nicht aufzuhören scheint, entfährt mir der Seufzer: Ein Glück, dass ich in Izmir nicht nach einem Rotweinabend den Weg nach Hause finden muss.

Ich verstehe; Antike heißt frei übersetzt: Alles schon mal dagewesen. Das Theater der Antike ist unser Fernsehen. Für jede Form der Unterhaltung gut, ob erhebend oder entsetzlich. Und ein wenig auch für Information und politische Propaganda einsetzbar. Die Gemeinschaftslatrine der Antike ist unser Facebook. Ein unverzichtbares Netzwerk, menschlich bis allzumenschlich, wozu auch der großzügige Verzicht auf Intimität gehört. Und die beiden größten Bibliotheken der Antike, die ewigen Konkurrenten Pergamon und Alexandria, haben sich zu Google und Wikipedia gewandelt.

So nebenbei erfährt man, ein türkisches Sprichwort halte diese drei Besitztümer des Mannes für unverzichtbar: Pferd, Waffe und Frau. In dieser Reihenfolge aufgezählt. Klar, dass ich nie ein Türke werden kann. Was sollte ich mit Pferd und Waffe anfangen? Und als Ersatz dafür vielleicht drei Frauen? Aus dem hinteren Teil des Busses eine Frauenstimme mit der Frage: Und was sind die drei wichtigsten Dinge für eine Frau? – Keine Antwort.

Unser Reiseleiter ist ein echter Türke. Dabei weiß ich nicht, ob er ein Pferd hat, eine Waffe und eine Frau. Aber er ist in der Lage, voller Nationalstolz ein Dutzend Turkvölker aufzuzählen, aber die Kurden, die es daneben auch noch gibt, unerwähnt zu lassen, genau wie die Teilung Zyperns und wie die Vernichtung der Armenier. Er ist stolz auf Kemal Pascha Atatürk und auf den gegenwärtigen Präsidenten Erdogan und kann darüber schweigen, dass Erdogan die Uhr Atatürks zurückdreht.                          

Bei der Fahrt über Land wie beim Navigieren durch die Städte, überall ist nur peinlichste Sauberkeit zu bemerken. Keine Plastikflaschen, keine Zigarettenpackungen neben den Straßen. Einfach nichts, das stört. Beispielsweise auch die Toiletten in den Hotelzimmern, die gleichzeitig immer als Bidet funktionieren. Wenn sich das erst herumspricht, wie sauber die Türken sind. Diese Überlegenheit könnte ein neues Argument für die Aufnahme in die EU abgeben.

Hierapolis, nein, das ist nicht die Verkaufsausstellung eines großen Beerdigungsunternehmens. Wenn das auch so aussieht. Hunderte Sarkophage und Grabhäuser und Tumuli, weil reiche Leute von überall her nach Hierapolis gekommen waren, um dort ihre letzten Lebensjahre zu verbringen. Das an Mineralien reiche Wasser der warmen Quellen lockte sie in dieses Baden-Baden der Antike. Die unterschiedlichen Arten der Grabstellen verraten einiges über die Kulturen, aus denen die Menschen kamen, die auf die Heilquellen dieser Landschaft setzten. Oder die gekommen waren, um das Apollon-Orakel zu befragen und zu erfahren, wie es weitergehen werde mit ihnen. Gestorben sind sie trotz alledem. Und jetzt könnte man sogar vermuten, dass sie alle ihre Auferstehung schon hinter sich haben. Sind sie doch sämtlich leer, die teuren Ewigkeitsbehältnisse aus Stein.

Vor der Besichtigung der Sinterterrassen von Pamukkale ein Defilee vorbei an der Phalanx der angetretenen bunten Automaten von acht verschiedenen Banken. Die Geldhäuser bestimmen also nicht nur – so peinlich aufdringlich wie bei uns daheim – das Bild der Städte. Doch dann dieser Anblick: Hell blinkende Riesenlachen über die Berghänge verteilt, wie untereinander gestapelt. Es lächelt der See, er ladet zum Bade. Aber nein, nicht erlaubt. Und wir verkalken auch so schon viel zu schnell.

Schön, auch einmal bei Ausgrabungsarbeiten zusehen zu können. In Laodikeia sind ein paar Leute mit Schäufelchen und Pinseln zugange. Die Stadt war eine wichtige Handelsstation der Antike, bis sie im 6. Jahrhundert von einem Erdbeben fast völlig zerstört wurde. Jetzt ein riesiges Freilicht-Puzzle, dessen Abertausende Teilchen schön nach Größe und Bearbeitungsgrad sortiert werden. Häufchen für Häufchen im Gelände sauber separiert, so wartet das ehemalige Laodikeia en detail auf den großen Puzzlemeister, der vermutlich nie kommen wird.

 

 

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