Moral

Dass die Tiere jenseits von gut und böse sind, das haben wir inzwischen kapiert. Prozesse gegen Tiere sind finsterstes Mittelalter. Aber dass wir Menschen nicht anders sind als die Tiere, weder gut noch böse, nur einfallsreicher, das ist offenbar schwer zu verstehen. Dabei geht es dem Tier genau wie dem Menschen nur um sein Ich. Das ist dem Tier und uns das Wichtigste. Bei den Tieren stehen an Durchgangsinteressen, die dem Ich dienen, Hunger und Durst, Geschlechtstrieb und Revierbehauptung oder Platz in der Rangordnung im Vordergrund des Verhaltens, bei uns Menschen geht es zusätzlich vordergründig um Reichtum und Macht und Nachruhm. Wie Tier und wir es im Einzelfall schaffen, mit der Verfolgung dieser Durchgangsinteressen etwas für das Ich zu tun, ist keine Frage der Moral, sondern bloß eine Sache der Geschicklichkeit oder Dummheit. Dabei ist die herrschende Moral, also das einer Gesellschaft übergestülpte Ordnungssystem, mit dem das Zusammenleben erleichtert wird, als – meist lästiger – zusätzlicher Umstand mit zu berücksichtigen. Kein Problem, solange es in einer Gesellschaft eine einheitliche Moralvorstellung gibt, egal ob gelebt oder nicht. Erst wenn durch ungewöhnlich große Bevölkerungsverschiebungen, die ganze Kulturräume übergreifen, total unterschiedliche Moralsysteme in einer Gesellschaft aufeinanderprallen, werden menschliche Taten abstrus und Strafprozesse den mittelalterlichen Tierprozessen ähnlich (vgl. Blutrache, Ehrenmord).

 

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