Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran

(Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran, F 2003, 94 Minuten, Drehbuch: Éric-Emmanuel Schmitt und François Dupeyron, Regie: François Dupeyron)

Eine unbedeutende Pariser Straße als ein ganzer Kosmos von scheinbar buntem Leben. Daraus entwickelt sich ein amüsantes Spektakel aus Lug und Trug. Man mogelt sich auf jede Weise durch. Wer kann es dem jungen Moses verdenken, dass er sich als schon 16-jährig ausgibt, weil er dem Reiz der schön aufgeputzten Huren verfällt, die er jeden Tag auf der Straße stehen sieht, vom Fenster der Wohnung aus, in der er mit seinem Vater lebt. Der Vater, ein mit Büchern lebender Jude, ist äußerst sparsam und mehr als verbissen ernsthaft, er ist permanent missmutig. Er hat Verdauungsprobleme und spricht nicht über die Mutter, die schon lange verschwunden ist. Er vergleicht seinen Sohn nur immer mit einem älteren Bruder, der alles besser gemacht habe, der belesen sei und angeblich bei der Mutter lebe. Der aus falscher pädagogischer Ambition erfundene ältere Bruder wird für den jungen Moses aber nicht zum Vorbild, sondern zum Hassobjekt.

Der Junge, der hauptssächlich von lauter Radiomusik zu leben scheint, kommt täglich in den Kolonialwarenladen des alten Ibrahim, den jeder den Araber nennt. Der Alte betont, er sei kein Araber, sondern ein Moslem. Von derselben abstrus-unsinnigen Logik sind seine Weisheiten, mit denen er den Jungen immer mehr beeindruckt. Der stiehlt im Laden regelmäßig, was er und der Vater zum Leben brauchen. Der Alte bemerkt es und übersieht es großzügig, schenkt dem Jungen sogar noch mehr an Nahrungsmitteln. Und er wird zu seinem Tröster, als es um die erste enttäuschte Liebe des Jungen geht. Ibrahim nennt den Jungen Momo, um den jüdischen Namen Moses zu vermeiden. Wenn der ihn verwundert fragt, woher er seine Weisheit hat, verkündet der Alte voller Stolz, er habe den Koran im Kopf. Doch was er von sich gibt, sind nur ein paar Lebenserfahrungen, vermischt mit widersinnigen Sprüchen, beispielsweise: „Wenn man wirklich etwas lernen möchte, liest man kein Buch. Man spricht mit jemandem.“ Oder: „Was du gibst, das gehört dir auf ewig. Was du behältst, ist auf immer verloren.“ Mit so dunklem Geschwätz wird der alte Krämer ohne besondere Anstrengung der große Guru des Jungen.

Dessen Vater verschwindet eines Tages, weil ihm gekündigt wurde. Bald darauf kommt die Nachricht von seinem Selbstmord. Für Moses/Momo wird der alte Ibrahim ein Ersatzvater, der den Jungen sogar adoptieren will. Doch machen die Behörden Schwierigkeiten. Mit Mogelei hilft der Junge dem Alten, den Führerschein zu machen, als der sich ein Auto gekauft hat. Damit fahren sie zusammen durch die Schweiz und Griechenland in die Türkei. Dort stirbt Ibrahim. Aber vorher hat er noch testamentarisch seinen gesamten Besitz dem jungen Moses/Momo vermacht. Der sitzt anschließend genauso auf dem Hocker hinter der Kasse des kleinen Kolonialwarenladens, wie sein Förderer und Ersatzvater dort immer gesessen hat: „Von acht bis vierundzwanzig Uhr und auch am Sonntag.“

Dieser Rondo-Effekt war zu erwarten. Übersetzt heißt er: Es bleibt doch immer alles beim Alten. Es ist das die Antwort auf die eifrige Bücherlektüre  des jüdischen Vaters und auf die Koran-Begeisterung des alten Ibrahim. Also ein aufklärerischer Film im Gewand einfallsreicher Unterhaltung. Das zeigt sich auch auf der großen Reise der beiden, für die eine griechisch orthodoxe Kirche nur nach Weihrauch riecht, eine katholische Kirche nach Kerzen und eine Moschee nach Schweißfüßen.

Wer diesen Film jedoch als eine Parallele zur Ring-Parabel Lessings sieht, mit der Aufforderung zu Toleranz als letzter Konsequenz, weil jede Religion gleich wertvoll sei, der missversteht ihn gründlich. Erst recht ist das kein Werbefilm für den Koran oder den Islam. Das verhindert schon die vom Titel ganz sicher nicht zufällig ausgelöste Assoziation zu dem 1857 erschienenen Buch „Die Blumen des Bösen“ von Charles Baudelaire, das mit den Zeilen beginnt:

„Verirrung, Dummheit, Sünde, Lug erschüttern
Im Fleisch uns, legen auf den Geist die Hand.
Wir päppeln unseres Gewissens Brand,
Wie Bettelleute Ungeziefer füttern.“

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch, das einer der witzigsten Skeptiker unserer Zeit geschrieben hat, erschienen 2001 (in deutscher Übersetzung, mit der falschen Genitivform bei Koran, 2003). Der französische Romancier und Dramatiker Éric-Emmanuel Schmitt (geboren 1960, in Brüssel lebend) führt in seinem Ibrahim-Buch über Lug und Trug und Mogelei die drei großen Buchreligionen ad absurdum, indem er ihnen kaltlächelnd die viel höhere Bedeutung des Lächelns gegenüberstellt.

Wenn man bedenkt, wieviel Unheil religiöser Fanatismus seit jeher über die Menschheit bringt, kann man diesem Film, der den Religionen die Luft rauslässt, nur einen möglichst weltweiten Erfolg wünschen.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

Dieser Beitrag wurde unter Filmbesprechungen veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.