Michel Bergmann: Die Teilacher

Gerissene Simplicissimi

(Michel Bergmann: Die Teilacher, Roman, Arche Literatur-Verlag, Zürich und Hamburg 2010, 288 Seiten, gebunden € 19,90)

Auf Seite 105 erklärt der Autor, was ein Teilacher ist, nämlich ein jüdischer Handelsvertreter, ein Genie im Direktverkauf an der Haustür, vor allem routiniert im Aufschwätzen von Wäschepaketen für die Aussteuer. Der Begriff Teilacher kommt aus dem Jiddischen. Konsequenterweise ist das Jiddische im gesamten Buch lebendig. Aber so, dass es von jedermann zu verstehen ist, weil es so deutsch klingt. Kein Wunder, ist Jiddisch doch ein uralter rheinischer Dialekt, der petrifiziert auf unsere Zeit überkommen ist. Weil das Jiddische ein frühes Deutsch ist, wird es bis heute in Israel offiziell nicht gern gehört, schon gar nicht gefördert, nur eben gelitten.

Dabei war das die Sprache der kleinen Leute, die Sprache des Gemüts und des Witzes, da es die Mámeloschn war und immer noch ist, die Muttersprache. Das Hebräische daneben war immer die heilige Sprache, die des Kultus, und wurde nur männlichen Juden beigebracht. Jiddisch war deshalb die Sprache der Mütter, also die Sprache zu Hause. Es wurde aber auch eine Literatursprache. Um nur einen der wichtigsten Jiddisch-Autoren zu nennen, den amerikanischen Literaturnobelpreisträger Isaac B. Singer (1904-1991), der u. a. die schwierige Existenz der Überlebenden des Holocaust in den USA beschrieben hat.

Bergmanns Buch bietet eine munter erzählte Geschichte der Nachkriegszeit, mit Schwarzmarktgeschäften, provisorischen Unterkünften und mit erschlichenen Konzessionen, mit den Liebchen der Besatzungssoldaten, mit Passierscheinen und immer wertloser werdendem Geld, schließlich mit der Währungsreform,  mit der Luftbrücke nach Berlin und dem Aufbau neuer Unternehmen. Im Mittelpunkt stehen jüdische Männer, die in der Nazizeit ihre Familien und alles andere verloren haben und jetzt von Erinnerungen und kleinen Gaunereien leben, weil sie sich irgendwie durchschlagen müssen, und das im vom Krieg zerstörten Frankfurt am Main, wo die Amerikaner das Sagen haben. Daneben spielen zwei Frauen eine Rolle, die aus Liebe zu einem Teilacher zum jüdischen Glauben übertreten.

Der Autor Michel Bergmann, 1945 als Kind jüdischer Eltern in einem Internierungslager in der Schweiz geboren, hat Glück gehabt. Er ist kein Zeitzeuge, sondern ein Nachgeborener. Aber er hat sich offenbar intensiv mit Zeitzeugen des Krieges, der Konzentrationslager und Arbeitslager sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit beschäftigt. Er lässt die Überlebenden als Ausnahmemenschen in einer Ausnahmesituation wiederaufleben, und das in einer sehr plastischen Sprache, weil er ständig jiddische Ausdrucksweise zitiert.  Dabei weiß er das Geschehen auch mit den typisch jüdischen Witzen zu bereichern. Da wird beispielsweise einer erwähnt, der ein so reicher Mann geworden ist, dass er schon mit sich selbst nicht mehr spricht. Und auch vor abgegriffenen Bonmots scheut der Autor nicht zurück. So lässt er einen unzufriedenen Gast im miesen Restaurant zum Kellner sagen, er habe schon bessere Suppe gegessen, wofür er dann zu hören kriegt: Aber nicht bei uns.

In diesem Roman über die Teilacher ist jeder einfache Mann auf einmal ein Unikum und ein Lebenskünstler – bis auf den einen, der Selbstmord begeht, aber eine Nebenfigur ist. Zugegeben, diese Betrachtung unserer jüngeren Geschichte aus höherer Warte, nämlich aus der schnoddrigen Sicht des Überlebenskünstlers, ist eine vergnügliche Lektüre. Für den Autor Bergmann steht der Teilacher als ein Synonym für Stehaufmännchen. Damit wachsen diese Klinkenputzer dem Leser so ans Herz, dass er noch über die übelsten Tricks beim Verkauf der Wäschepakete lachen kann. Immer volles Verständnis, „denn vielen war der liebe Gott unterwegs abhandengekommen“, wie es im Buch heißt.

Aber neben allem Amüsement steht dann plötzlich eine Bemerkung über die Verfolgung von Juden im Polen der Nachkriegszeit, was manchen nötigte, in das Land seiner Feinde auszuweichen, nach Deutschland, weil er da sicher war. Damit wird deutlich, dass der Autor  nicht nur eine amüsant-unterhaltsame Geschichte erzählen, sondern ein getreues Abbild der Nachkriegszeit bieten will. Das war die Zeit, in der Michel Bergmann ein Kind war. Aber er liefert uns mit diesem Buch nicht seine Kindheitserinnerungen, sondern die Erinnerungen seiner älteren Verwandten und Bekannten. Damit ist das kein Simplicissimus-Bericht, haarsträubend, weil von einem, der alles selbst erlebt und es auch überlebt hat, sondern ein amüsanter Bericht über Simplicissimi, die in schwerer Zeit nichts anderes als überleben wollten, und das auch irgendwie geschafft haben.

Ein Roman, den man als ein gelungenes Stück moderner Literatur bezeichnen könnte, wenn das letzte Kapitel weggelassen worden wäre. Denn damit hat der Autor sein Buch einen sentimentalen Schwenk in Richtung Trivialroman machen lassen. Vielleicht wollte er sich damit für seinen Romanerstling Akzeptanz bei einem der großen Publikumsverlage verschaffen, die so was verlangen, weil sie meinen, ihre größere Leserschaft brauche das. Hinterher kann man jedenfalls sagen: Wenn der Autor dafür eine Konzession an den Massengeschmack gemacht hat, dann war das vergebens, weil er mit seinem Nachkriegsroman doch nicht Eingang ins Programm eines dieser Großverlage für Massenunterhaltung gefunden hat, sondern in einem Literaturverlag gelandet ist. Andernfalls wäre er hier aber auch nicht besprochen worden.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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