Manuele Fior: Fräulein Else – Nach der Novelle von Arthur Schnitzler

Schnitzeljagd

(Süddeutsche Zeitung Bibliothek, München 2012, 90 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-86497-008-5)

Ein Fall von Etikettenschwindel. Denn es handelt sich in Wahrheit um eine Kurzfassung von Arthur Schnitzlers Erzählung „Fräulein Else“, die von Manuele Fior durchgehend illustriert wurde. Aber es entspricht exakt der geistigen Haltung unserer Zeit, dass Idee und Text abgewertet werden, dafür aber alles, was Bild ist, nicht groß genug gebracht werden kann. Solchen Produkten gibt man dann einen modern klingenden Namen, selbstverständlich in Englisch: Graphic Novels. Und schon hat man die Literatur um ein neues Kind bereichert – glaubt man zumindest.

Nun muss man zugeben, dass auch die Literatur schon immer mit allerlei Winkelzügen gearbeitet hat. Die Erzählung „Fräulein Else“ von Arthur Schnitzler, erschienen 1924, wurde als hohe Literatur geschätzt, weil sie von Anfang bis Ende aus einem einzigen Inneren Monolog der Else besteht. Wobei der Erzähler vollkommen außen vor bleibt. Was zwar nicht neu war, vom Autor aber konsequent durchgehalten wurde. Es ergab das einen Experimentaltext, der dem Leser von heute leider mehr Durchhaltevermögen als Bewunderung abverlangt.

Ein Vorläufer von Arthur Schnitzler (1862-1931) bei dieser Art der Texterei war der Dichter Carl Spitteler (1845-1924), der Literaturnobelpreisträger von 1919, heute kaum noch bekannt. Spitteler hatte u. a. die Erzählung „Conrad der Leutenant“ geschrieben und 1898 veröffentlicht, dazu eine Vorbemerkung, die exakt die Darstellungsweise des Inneren Monologs beschreibt. Spitteler hatte die Forderung aufgestellt, dass die Hauptperson gleich mit dem ersten Satz eingeführt und dann auch nie mehr verlassen wird. Alles sollte nur aus ihrem Blickwinkel geschildert sein. Die Handlung müsste lebensgetreu fair go casino Australia Stunde für Stunde widerspiegeln. Der Text also in derselben Zeit zu lesen sein, die die Handlung braucht. Das erinnert an eine alte Handwerksregel für Theaterautoren: Die Einheit von Raum und Zeit. Ein Korsett, das in manchen Fällen seine Berechtigung und seinen Reiz hatte, aber wie jedes Korsett eine schreckliche Einengung darstellte. Ob Spitteler damit ein Vorbild für Arthur Schnitzlers Weihnachten 1900 erschienene Erzählung „Leutnant Gustl“ gegeben hat, ist umstritten, zumal Spitteler selbst in seiner Erzählung den Inneren Monolog nicht konsequent durchgeführt hat.

Jedenfalls ist zwei Jahre vor Schnitzlers Erzählung „Fräulein Else“ der Dublin-Roman „Ulysses“ von James Joyce erschienen, dessen Schlusskapitel aus dem großen Inneren Monolog der Molly Bloom besteht, der Furore machte. Denn der dort gebotene Bewusstseinsstrom war viel radikaler wiedergegeben als bei Schnitzler, weil Joyce die Interpunktion weggelassen hat und sich auch nicht mehr an die konventionelle Syntax hielt. Wie auch immer die Autoren sich wechselseitig beeinflusst haben mögen oder selbständig waren, eine neue Schreibweise lag wohl in der Luft, die zu neuartigen Stücken von anspruchsvoller Literatur führte.

Arthur Schnitzlers Hauptfigur Else ist eine junge Frau aus Wien, die in einem Südtiroler Hotel per Expressbrief erfährt, dass ihr Vater, ein angesehener, aber spielsüchtiger Anwalt, Mündelgelder unterschlagen hat und die Rückzahlung des Geldes binnen zwei Tagen nötig ist, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Die Mutter fordert ihre Tochter Else auf, den Herrn von Dorsday, den gerade im selben Hotel wohnenden reichen Kunsthändler und alten Bekannten der Familie, zu bitten, dass er dem Vater die Summe leiht. Der Kunsthändler ist dazu bereit, stellt aber eine Bedingung, die Else in den Tod treibt. Er will sie einmal nackt sehen. Für Else eine Forderung, die zu weit geht.

Der Versuch, Literatur zeichnerisch umzusetzen, hatte mit diesen Schwierigkeiten nicht zu kämpfen. Der aus Italien stammende Zeichner, Jahrgang 1975, stellt Nacktheit hemmungslos im Großformat dar. Womit sie schon als belanglos abgetan ist. Für Arthur Schnitzler, der sich nicht mehr wehren kann, ein Schlag ins Gesicht. Der Autor ist zwar noch heute en vogue, vor allem mit seinen Theaterstücken, wird aber mit den von ihm dargestellten Problemen von gestern unvermeidlich zum Opfer der Moderne.

Der Zeichner hat offenbar verstanden, dass die Nase des Menschen als Visitenkarte oder Code eingesetzt werden kann. Sein Buch ist ein Nasenbuch. Mit einiger Berechtigung, ist doch unübersehbar, dass die Nase der einzige Körperteil ist, der in Handarbeit individuell verändert wird. Deshalb steht die Nase für den Menschen, der sie trägt. Daher die  vielen umgangssprachlichen und sprichwörtlichen Bemerkungen über Menschen, deren Nasen einem nicht gefallen. Der Zeichner brauchte sich nur an die aktuell bei uns herrschenden Vorstellungen anzulehnen. Das heißt, dass ein Filou eine Hakennase trägt und dass junge Frauen schmale und spitze Nasen haben, die hochgedrückt sind, wie bei Amerikanerinnen üblich. Dagegen haben alte Menschen dicke und breite Nasen mit von den Seiten energisch hochgedrückten Kotflügeln.

Das Prinzip ist zu erkennen, wenn es vom Zeichner auch nicht konsequent durchgehalten wurde. Bei den gezeichneten jungen Männern gibt es keinen durchgehenden Code, weil sie mal spitznasiger und mal stumpfnasiger dargestellt werden. Und beispielsweise der immer wieder anders gezeichnete Herr von Dorsday bekommt auf diese Weise viele Gesichter. Effekte, die nicht beabsichtigt sein können, weil sie in Schnitzlers Text keine Grundlage finden.

Was als Comic schon lange bekannt ist, wollen manche Verlage jetzt aufmotzen zu einer neuen Kunstgattung namens Graphic Novels. Mit diesem Buch, das nur vom Format her groß daherkommt, ist das nicht gelungen. Da nützt es auch nichts, dass der Verlag der Süddeutschen Zeitung, die es herausgibt, auf der Buchrückseite eine hymnisch verherrlichende Pressestimme zitiert, peinlicherweise aus eben dieser Süddeutschen Zeitung. Bei aller Hochschätzung für die SZ, man sollte das Publikum nicht für dumm verkaufen wollen.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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