Mälarsee – Mälaren (1955)

 

War immer noch nichts und allein, trampend und fast ohne alles Geld. Was wusste ich von Stockholm? Nichts, überhaupt nichts. Nur den Klang des Namens hatte ich im Ohr, irgendwo und irgendwann aufgeschnappt, als irgendwer ihn so begeistert ausgesprochen hat, dass ich unbedingt dorthin musste, nach Stockholm. Und dann habe ich mich doch nicht in die Stadt verliebt, sondern in den Mälarsee, noch ehe ich die Stadt gesehen habe.

Der erste Abend am See. Endlich durfte ich mich strecken, durfte ich schlafen. Nach langer Fahrt, langen Gesprächen. Ich sah sie auf den Bäumen liegen, die sich vor dem Fenster postiert hatten: Schwarze Gewitterwolken. – Haltet sie fest, diese Wolken, haltet sie fest! Denn sie gönnen mir nicht, was mein Ziel ist: Stockholm am See, die Stadt am Wasser und auf dem Wasser.

Am nächsten Morgen standen die Bäume ohne ihre schwarze Last da, breit und selbstbewusst. Und am Fenster überfiel mich die neue Luft, die Luft vom See. Weit und kalt und voll Temperament griff sie um den bettheißen Kopf, durchwehte ihn, dass ich laut auflachte: „Mälarsee, Mälaren!“ Raus aus dem verschlafenen Städtchen. Eskilstuna hieß es. Auf die Straße. Und bald hielt auch ein Wagen an. Ein junger Schwede nahm mich mit.

Aber schon nach kurzer Fahrt hielt er wieder an, auf freier Strecke, und befahl mir auszusteigen. Dann sah ich, warum. Ein  junges Weib stand am Wagen, ein Mädchen beinahe noch, so zierlich, so dünn, aber ganz Weib in dieser selbstsicheren Haltung, herausfordernd, ohne Gepäck, nur mit einem Lächeln und einer Zigarette. Die beiden fuhren ohne mich weiter. Und in der Ferne sah ich sie abbiegen von der Landstraße, hinein in die graugrüne Wand von Bäumen unter Flechten. – Unter Flechten Geduld, Alter, Zittern der Riesen und der unbekümmert große Blick des Waldes auf uns Menschen.

Also wieder warten, wandern, winken. Dann kamen Bob und Lars, die mich mitnahmen. Weiter nach Stockholm. Und ich atmete heftiger, als könnte ich das Ziel ansaugen. Vorbei flogen die Wälder, vorbei auch flogen die dunklen Flecken auf der Straße: Graue Felle und getrocknetes Blut. Überall hatte ich davon gehört: Kaninchenpest. Über Hunderte von Fellen hatte mein Weg schon geführt, doch dieser Weg musste bald ausfransen in die Stadt Stockholm.

Plötzlich stoppte Bob, und er nahm das Mädchen in den Wagen, das Mädchen ohne Gepäck, nur mit einer Zigarette und ohne Lächeln. Zu viert fuhren wir weiter über Kaninchen, Kaninchen, Kaninchen, zwischen Wäldern voller Flechten. Und das Mädchen, das mich schon kannte, saß neben mir und sprach kein Wort. Seine Lederjacke trug Spuren von Waldboden, und die Hand mit der Zigarette war zerkratzt, blutig. Ich wollte sie fragen, wollte und wollte und tat es dann doch nicht, weil Bob sich zu mir umwandte und fragte, ob wir in Deutschland auch ein Jugendproblem hätten.

Dann endlich in Stockholm angekommen. Und gleich ein Job: Hilfssteuermann bei Bob und Lars, die ihre Jacht in Stockholm liegen hatten und sie nachhause überführen wollten, zwei Tagereisen weit. Abfahrt in einer Stunde. Treffen hier am Kai. Also konnte ich schnell noch einmal allein weg. Nicht hinter dem Mädchen her, dem mit der Zigarette in der zerkratzten Hand. Nein, zur nächsten Polizeistation durchgefragt und dort zu Protokoll gegeben: „Ich gehe jetzt mit zwei Schweden auf Tour, von denen ich nur weiß, dass sie Bob und Lars heißen, welchen Wagen sie fahren und welches Kennzeichen dieser Wagen hat. Ich soll in drei Tagen wieder zurück sein. Wenn ich mich also in drei Tagen nicht hier bei Ihnen melde, dann suchen Sie mich bitte. Und das hier ist die Anschrift meiner Eltern in Deutschland.“ Großes Erstaunen bei den Uniformierten, aber dann doch Notieren und Kopfnicken.

Danach diese Überraschung: Eine wunderschöne kleine Motorjacht. Zehn Meter lang und vielleicht drei Meter breit. Mit einer Kochstelle unter Deck neben der Kabine mit drei Betten, drei Stühlen und einem Tisch. Alles passend, als wäre die Jacht für mich gebaut worden.

Schuppig stand das Wasser ums Boot. Wie Spiegelscherben, die die Sonne äfften und an schrägen Felsen klirrten. Immer neue Inseln zwischen Booten, Schiffen. Dazu Herrensitze tief im Wald und Badestrände mit neckisch nackten Menschen und immer neue Segel zwischen Inseln, Inseln, Inseln. Die Sonne brannte, und wir aßen etwas Selbstgebratenes. Wir sangen und sangen, was wir gemeinsam kannten: Lilli Marleen auf dem Mälarsee, Mälaren.

Dann stand ich allein am Steuer, nach einer nur sehr kurzen Einführung, die mich mehr stolz als kundig gemacht hatte: Die Bojen und die Besen, die Leuchtfeuer und die Fahrrinnen …  Festgeheftet auf die Seekarte stand ich da, mit hartem Griff um das Steuerrad, glücklich, überglücklich. Singen, singen, winken zu den anderen Booten hinüber und Wettfahrt mit den Wolkentupfern im Himmelsblau, so blau, so blau.

Bis plötzlich der Dampfer vor uns erschien. Weit größer als wir. Ich wich gehorsam nach links aus, wie Bob es mir erklärt hatte. „Immer der Kleinere muss ausweichen, und zwar immer nach links. Nur bei Segelbooten ist es anders. Denen müssen wir immer ausweichen, egal ob wir kleiner oder größer sind.“ Aber was war das? Ich sah deutlich, dass der Dampfer ebenfalls auswich, dass er nach rechts drehte, so dass wir im spitzen Winkel aufeinander zu fuhren. Ich riss das Steuerrad weiter herum, soweit nach links, wie es ging und sah mit Entsetzen den schweren Gegner auf mich zu kommen, näher, immer näher. Ich sah, dass unser Boot kaum auf das Steuer ansprach, und schrie, schrie auf, rannte davon, ließ das Steuer Steuer sein, rannte hinunter zu Bob: „Hilfe, höchste Gefahr!“

Als wir zusammen zurückgehastet waren in die Steuerkabine, Bob und ich, glitt der Dampfer an uns vorüber. Winken und fröhliches Rufen. Unser Boot hatte doch noch früh genug dem Druck des Steuers gehorcht. „Immer etwas verzögert“, erklärte Bob. „Kein Grund zur Panik.“ Damit war er auch schon wieder hinunter. „Bin doch der Smutjehelfer“, hatte er nur als Erklärung.

Dann lief die Sonne meinen Blicken davon. Dafür lockte der See das Boot umso hörbarer mit seinem drängenden Klatschen, lockte mit Schwärze und drohte mit unausweichlicher Umarmung. Regen in langen Streifen hing plötzlich um die Kajüte. Die Bojen und Besen im Wasser waren keine Hilfe mehr, das Leuchtfeuer voraus war zu weit weg, wurde aufgezehrt von zu vielen Wassertropfen. Doch hinter mir war das letzte Leuchtfeuer noch soeben zu sehen. Also Blick nach hinten, so konnte ich die Richtung ausmachen und den Kurs halten: „Nur immer in der roten Phase bleiben“, hatte Bob gesagt.

Von einer Sekunde auf die andere brach die Regenwand zusammen, fiel platschend auf Dach und Planken. Die Luft auf einmal frei, der Abend klar. Eine gleißende Sonne hatte sich unbekümmert davon gemacht, nein, die Erde hatte sich umgedreht. Für das Boot war es gleich: Keine Sonne mehr, kein Licht mehr. Wasser in langen Streifen hatte das dunkelnde Spiegelbild des Sees gewaschen. Vorbei. Und unser Boot schlingerte in die Nacht hinein.

Fast schon Mitternacht fiel der Anker, blabbte in die schwarz glänzende Haut. Im Halbrund um die Bucht standen die Riesen, ließen sich ihre Äste in wiegender Berührung, düster und wortlos. Da prustete ein Schwarm Wildenten hoch, aufgescheucht von unseren Stimmen, Lauten des Tages, nicht der alles überschwemmenden Nacht. Und ein erneutes Klatschen wie vom letzten Regen. Der Schwarm war nicht weit geflogen. Nun hockten die Enten da wie Staub auf dem dunklen Glas.

Bob war als erster ausgezogen und mit einem Hechtsprung über Bord. „Es wird dir vielleicht ungewohnt sein, so ganz ohne“, meinte Lars, „aber wir waren Soldaten.“ Ich sprang fast gleichzeitig mit ihm. Doch als ich mich ausgetobt hatte im dunkelnassen All, als ich auf dem Rücken schwamm, toter Mann machte und den Mond über mir hängen sah, fahlgelb und stur, war das Wort Soldaten immer noch da. Das Wort, das nicht hineinpasste in die Bucht des Paradieses.

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