Lutz Rathenow: Der Liebe wegen

Alles ganz anders

(Lutz Rathenow: Der Liebe wegen – Ein Wende-Buch mit zwei Vereinigungsgeschichten, mit Illustrationen von Frank Ruprecht, 42 Seiten, Großformat, broschiert, Edition Buntehunde, Regensburg 2009, Euro 14,90, ISBN 978-3-934941-55-7)

Hier ist alles anders als es scheint. Was auf den ersten Blick wie ein Kinderbuch daherkommt, das Format und die plakativen bunten Bilder des Kinderbuch-Illustrators Frank Ruprecht sagen doch schon alles, entpuppt sich als ein überraschend politisches Buch. Dies in der ersten der beiden Geschichten vor allem durch die gemalten Macht- und Leidenssymbole, die zu der absichtsvoll formelhaften Sprache und den klaren Hinweisen auf despotische Regime passen. Was sich als Wende-Buch bezeichnet und einem gleich plausibel ist, weil der Autor Lutz Rathenow einer der unterdrückten DDR-Dichter ist, der erst durch die Wende befreit wurde, erweist sich schlicht als ein Buch, das man wenden muss, weil es einmal von vorne und einmal von hinten zu lesen ist. Und die beiden Vereinigungsgeschichten, die es zu bieten vorgibt, enden beide unmittelbar vor der Vereinigung der jungen Leute, von denen erzählt wird. Also ist alles anders als es scheint. Wenn das nicht schon eine literarische Aussage ist.

Die eine Geschichte heißt „Spieglein im Gesicht“ und handelt von einer Prinzessin, die selbstverständlich sehr schön war. Sie liebte sich selbst über alles, weil sie sonst nichts Liebenswertes fand. Ihre intensive Liebelei mit ihrem Spiegelbild erfuhr jedoch einen Knacks, als sie in zu engem Kontakt den Spiegel zerspringen ließ und sich dabei verletzte. Daraufhin benutzte sie den Wasserspiegel eines Brunnens, bis das Unvermeidliche geschah: Sie fiel rein. Sie wurde jedoch vor dem Ertrinken gerettet. Daraufhin erging der Befehl, jeder Landesbewohner habe seine Augen zur Verfügung zu stellen, damit die Prinzessin sich darin spiegeln könnte. Für das objektiv unsinnige Begehren der Staatsmacht müssen alle Untertanen antreten und sich durchtesten lassen. Ein Bauernbursche ist schließlich der mit den richtigen Spiegelaugen.

Die andere Geschichte heißt „Das unerwartete Glück“ und lässt einen jungen Fotografen unschlüssig im Café sitzen und der Kellnerin zuschauen, die ihm allmählich immer mehr gefällt. Die Bedienung ist nicht nur am Umsatz interessiert, sie bringt dem jungen Mann Gedichte, die sie geschrieben hat. Nun muss er ihre Gedichte lesen, dabei flüchten seine Augen aber hinaus, wo sie im Straßenverkehr eine Frau entdecken, die viel attraktiver ist als die Kellnerin. Diese Frau glaubt eine Idee zu einer Liebesgeschichte gefunden zu haben und eilt ohne Rücksicht auf den Verkehr zu ihrem Produzenten. Beinahe wäre sie überfahren worden. Doch dann passiert ganz was anderes: Aus einem tollen Auto steigt ein noch tollerer Elvis-Presley-Typ, der einen Herzanfall bekommt und auf die Straße sinkt. Die attraktive Frau wirft sich auf ihn, um ihn mit Mund-zu-Mund-Beatmung zu retten. Dann riecht der junge Fotograf das Deo der Kellnerin und hört, wie sie ihm sagt, dass sie gleich Feierabend habe, dann solle er mit ihr nachhause gehen. Der Fotograf genau wir die Kellnerin laufen mit ihrer künstlerischen Kreativität ins Leere, so ist nun einmal der Privatkapitalismus, und müssen sich damit begnügen, dass sie sich dabei finden.

Auf eine kurze Formel gebracht, könnte man dieses Wende-Buch so deuten: Das Märchenhafte ist unproduktiv, da muss man beide Augen zudrücken, doch die Produktiven können noch so intensiv schauen, das Leben wird nicht zum Märchen. Aber wie man es auch dreht und wendet: Jeder wird sich seinen eigenen Extrakt ausdenken müssen. Egal, ob mehr märchenhaft oder mehr real existierend, die Hauptsache, er hat etwas von diesen Texten und Bildern, die nicht so leichthin aus dem Ärmel geschüttelt sind wie sie tun.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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