Lüge und Wahrheit – Shattered Glass

 

(Shattered Glass, USA/Kanada 2003, 95 Minuten, Drehbuch und Regie: Billy Ray)

Eine als Spielfilm daherkommende Dokumentation eines Skandals, der 1998 in den USA für große Aufregung sorgte. Es geht um die Wahrheit. Deshalb ist es berechtigt, dass der Film, der ursprünglich auch in deutsch synchronisierter Fassung nur mit dem englischen Titel auftrat, dann doch noch den ergänzenden deutschen Titel bekam: „Lüge und Wahrheit“. Denn der ursprüngliche Titel „Shattered Glass“ bringt bloß ein belangloses Wortspiel – übersetzt: Zersplittertes Glas – weil der Journalist, um den es geht, zufällig Glass, übersetzt: Glas, hieß.

Durch die Erweiterung des Titels führt der Film zu der Frage: Kann der Spielfilm, der uns doch nur Wirklichkeiten vorspielt, die Wahrheit offenbaren?

Die Rahmenhandlung zeigt den jungen Journalisten Stephen Glass, der von seiner ehemaligen Lehrerin voller Stolz einer Schulklasse vorgestellt wird, die aus seinem Mund erfahren soll, was moderner Journalismus ist und wie er funktioniert, auch welchen Kontrollmechanismen er sich selbst unterwirft. Der Bericht des offenbar erfolgreichen, ja, prominenten jungen Journalisten, der von den Schülerinnen mit bewundernden Blicken umschmeichelt wird, ist unterschnitten mit Szenen aus dem journalistischen Alltag. Da ist zu sehen, wie Stephen Glass als der jüngste Redakteur im Team des renommierten Politmagazins „The New Republic“ seine Kolleginnen und Kollegen und auch die Leser des Magazins damit in Erstaunen versetzt, dass er die spektakulärsten Reportagen bringt. Ob es um eine Versammlung junger Republikaner geht, in die der Reporter sich eingeschlichen hat und die er als wilde, saufwütige Horde beschreibt, oder um ein Treffen jugendlicher Hacker, die zum Schrecken der Großkonzerne geworden sind, derart dramatische und bunt schillernde Insiderberichte haben die anderen Journalisten nicht zu bieten.

Doch dann beginnt man aufgrund von Protesten Betroffener, nach den Fakten zu suchen, die hinter den Berichten stehen, und der junge Journalist Stephen Glass gerät immer mehr in ein schiefes Licht. Doch räumt er mit Geschick und plausibel klingenden Erklärungen Stück für Stück die Zweifel an der Wahrhaftigkeit seiner Reportagen aus. Sein Chefredakteur verliert dabei seine Stelle, und der Nachfolger erweist sich als ein überlegener Ermittler. Immer mehr Ungereimtheiten werden in den Reportagen von Stephen Glass entdeckt. Schließlich bricht der scheinbar so überlegene Reporter zusammen und gibt zu, dass er Erfundenes aufgetischt hat. 27 von seinen 41 Reportagen waren erfunden. Das führt zu seiner sofortigen Entlassung.

Bewundernswert ist der Spannungsbogen, den der Kinofilm aufgebaut hat und den er bis zuletzt aufrecht hält. Der Vortrag des gefeierten jungen Journalisten vor der Schulklasse lässt den Betrachter des Films bis zuletzt davon überzeugt sein, dass sich doch noch alles zum Positiven wenden wird für den jungen Reporter, der immer noch die Sympathiefigur des Films ist, wenn er auch zur Qual der Zuschauer immer stärker in die Mangel genommen wird. Erst als er wieder in dem Klassenzimmer gezeigt wird, das nun aber leer ist, versteht der Kinogänger: Das Spiel ist aus, und er war nicht der strahlende Held vor den staunenden Schülerinnen und Schülern, denn auch dieser triumphale Auftritt war nur seine Einbildung.

Ohne die Rahmenhandlung wäre der Film die simple Dokumentation einer tatsächlich stattgefundenen großen Farce aus dem Jahr 1998. Mit diesem überraschenden Rahmen aber ist er ein Diskussionsbeitrag zum Thema Wahrheit. Erste Erkenntnis: Der am Schluss resigniert im leeren Klassenzimmer gezeigte Reporter, der in Schimpf und Schande seine Stellung verloren hat, hat sich mit seinen Fakes Anerkennung und weitere Aufträge ergaunert, damit also seiner Karriere gedient oder dienen wollen.

Das erinnert an einen großen Presseskandal-Vorläufer, nämlich den in Deutschland im April 1983 in der Illustrierten „Stern“ begonnenen Abdruck der Hitler-Tagebücher, die der Stern-Journalist Gerd Heidemann gefunden haben wollte. Der Reporter war zwar selbst getäuscht worden, nämlich von Konrad Kujau, dem Hersteller der Fälschungen, glaubte aber nur zu gern an die Echtheit seines Fundes, der schon bald angezweifelt wurde, und erfand Umstände, die die Echtheit untermauern sollten.

Gar nicht zu sprechen von den immer wieder einmal auftauchenden Berichten über gefälschte Versuchsreihen und Untersuchungsergebnisse von Wissenschaftlern. Bei diesen Täuschungen dreht es sich ebenfalls um Karriere und Geld.

Im Film über den jungen Reporter Stephen Glass wird aber auch einmal ausgesprochen, was letztlich hinter den Fakes steht, nämlich das eigene Ich, um dessen Glorifizierung es geht.

Daneben bietet sich eine andere Erklärung an. Wer kennt nicht den Typ Mensch, der zum Opfer seiner eigenen Phantasie wird? Dieser Mensch hält für wahr, was ihm einfällt, weil er es gerne so hätte. Er ist der zwanghafte Lügner, der sich selbst nicht als Lügner sieht. Ein gar nicht so seltener Typ Zeitgenosse, der leicht zum Objekt von Psychotherapeuten wird.

Schließlich ist das intensive Glauben an etwas, von dem man sich nur vorstellt, dass es so oder so sein müsste, eine der möglichen Erklärungen für das Entstehen von Religionen. Und unsere Bereitschaft, diesen Schritt über die Wirklichkeit hinaus mitzumachen und für wahr zu halten, was wir als unmöglich wahr durchschauen, ist die Grundlage für unsere Religiosität.

Ein Kinofilm, der über den beeindruckenden Informationswert in Sachen Journalismus und über den hohen Unterhaltungswert hinaus zu so weitreichenden Erkenntnissen über Lüge und Wahrheit führt, darf wahrhaftig als gelungen bezeichnet werden.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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