Leo Rosten: Jiddisch

                                                                                                              

Nebbich

(Leo  Rosten: Jiddisch  –  eine  kleine  Enzyklopädie,  aktualisiert und kommentiert  von Lawrence  Bush,  illustriert  von  R. 0. Blechman, Übersetzung und deutsche Bearbeitung von Lutz-W. Wolff, dtv, München 2002,   638 Seiten,  ISBN 3-423-24327-9 , kartoniert 25.-  €,  42.10  CHF)

Was für eine Idee! Da hat ein Amerikaner im Jahre 1968 ein kluges Buch über eine Sprache veröffentlicht, das zugleich ein Wörterbuch dieser Sprache ist und ganz nebenbei Köstlichkeiten aus der Literatur dieser Sprache bringt, nicht zuletzt kleine Anekdoten und typisch jiddische Witze. Das alles in einfühlsamer Übersetzung serviert, ein reich bestücktes Buffet, an dem   man sich nicht satt essen kann. Und dabei muß man immer wieder die Serviette vom Schoß hochreißen und sich vors Gesicht halten, weil man wiehernd loslacht.

Jiddisch, nicht gleichzusetzen mit jüdisch, hieß noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Judendeutsch. Um dieses barocke Judendeutsch zu erlernen, hat der 22-jährige Goethe Sprachunterricht genommen. Doch im modernen Israel tut man sich schwer mit dieser Sprache. Und nicht nur dort. Erst kürzlich, als der Rezensent  seiner amerikanischen Übersetzerin erzählt hatte, daß er aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt habe, kam die erstaunte Frage: „Aus dem Jiddischen? Wie kommen Sie auf dieses Arme-Leute-Idiom?”  Ein Vorurteil, das heute in den USA immer noch weit verbreitet ist, dabei hat das amerikanische Englisch genau wie das Deutsche eine Unmenge jiddischer Wörter übernommen. So mußte der Rezensent der Übersetzerin erklären, was ihm dieses Buch jetzt schriftlich bestätigt: Keine andere Sprache ist dem Deutschen näher verwandt als das Jiddische. Ist das doch der petrifizierte Dialekt der Juden, die im frühen Mittelalter im Rheinland gewohnt hatten, vor allem in Worms und Trier, und ihre Sprache mitgenommen haben, als sie wegen der Judenpogrome in der Kreuzzugszeit in die Länder des Ostens ausweichen mußten. Dieser deutsche Dialekt aus der Zeit noch vor der Entstehung des Mittelhochdeutschen, damals tatsächlich eine Arme-Leute­Sprache, wurde angereichert mit hebräischen und slawischen Sprachbrocken, später auch mit englischen, und ist heute weltweit bekannt als der eigentliche Hort jüdischer  Lebenserfahrung und Weltanschauung, ist eine Literatursprache , die 1978 sogar mit dem Literaturnobelpreis  für Isaac B. Singer geehrt wurde.

Jiddisch wurde die Mámeloschn, die Muttersprache der Juden, weil das Hebräische die heilige Sprache war und heute die offizielle Sprache ist. Jahrhundertelang durften die Mädchen nicht Hebräisch lernen, also wurde in den Familien Jiddisch gesprochen. Is es e Wunder, wenn der jüdische  Witz, in dem sich die leidvolle Erfahrung eines immer wieder neu heimatlos gewordenen Volkes äußert, in Jiddisch daherkommt?

Heute, da wir einen weltweiten Verdrängungswettbewerb  der großen Sprachen erleben und fast wehrlos zusehen müssen, wie unsere deutsche Sprache von Politikern, Wirtschaftsführern  und Werbefuzzis  leichtfertig aufgegeben wird zugunsten des Englischen, ist ein Aspekt dieser Jiddisch­Enzyklopädie besonders wertvoll, nämlich der Hinweis darauf, daß die Sprache eines Volkes das Sublimat seiner gesamten Geschichte ist. Daß also eine Nation ihre Geschichte und Kultur aufgibt, wenn ihr der Niederschlag ihrer eigenartigen Geschichte in den Eigenarten ihrer Sprache nichts mehr bedeutet. Nur ein Beispiel für die Überlegenheit  des Jiddischen, das wie jede Sprache seine Eigenarten hat: Es gibt im Jiddischen kein Wort für enttäuscht. Was für die Schöpfer und Benutzer dieser Sprache spricht. Sie müssen so realistisch gewesen sein, sich nicht irgendwelchen Täuschungen hinzugeben, aus denen sie herausgerissen, also ent-täuscht werden konnten.

Dieses Buch ist ein Musterbeispiel für die Vermittlung von Information mit hohem Unterhaltungswert. Und mit einigem mehr. Denn auch wer nicht vorhat, Jiddisch zu lernen, lernt bei dieser Lektüre sehr viel, auf jiddische Weise, nebbich.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

 

 

 

 

 

 

 

 

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