Kreuzfahrt im Südchinesischen Meer (2012)

Von Bangkok nach Bangkok, eine Zwei-Wochen-Tour. Dabei immer diese gewaltigen Bugwellen, wie sie aufschäumen, fast möchte ich sagen: In strahlendstem Weiß. Ja, imponierend, nur um gleich darauf wieder in Schwärze zu zerfließen. Als ob sie das Motto dieser Reise auf die weite Meeresfläche schreiben wollten: Alles nur Schaum. All die Animation, all die Lautstärke der Musik, all die Highlights der Ausflüge und all der Überfluss an Speisen und Getränken und Verlegenheitsbeschäftigungen. Ein Wohlstandsschaum, der für einen kurzen Moment auf der unendlichen Schwärze des alles beherrschenden Elements Wasser schwimmt.

Zweidrittel des Erdballs sind von Wasser bedeckt. Und das Wasser nimmt sich immer noch mehr vom Land, so wie die Gletscher und die Eiskappen der Pole schmilzen. Landnahme andersherum. Dabei zu wissen: Zu Siebenachtel bestehen wir Menschen aus Wasser, glauben jedoch, am Ende als Asche übrig zu bleiben. Das Meer widerspricht, also ist es doch das einzig wahre Vanitasbild.

Was sich Kreuzfahrt nennt, das ist nichts anderes als der Versuch, die uralte Vorstellung vom Schlaraffenland Wirklichkeit werden zu lassen. Bloß noch faulenzen und sich von der Sonne streicheln lassen, jederzeit und ohne jede Anstrengung sich vollfressen, sich volllaufen lassen. Man braucht nur noch das Maul aufzusperren und den Hosenbund zu öffnen. Dafür hat man sich durch den Berg von Hirsebrei gekämpft, den Wolkenbrei, in dem der Jet einen durchgeschüttelt hat. Jetzt endlich angekommen im Schlaraffenland, im Land der lustvollen Völlerei. Hier kann ich Mensch sein, hier will ich bleiben. Für immer.

Großes Schiff, das heißt großes Lautsprechergebrüll. Man ist ja bloß noch einer von einigen tausend Passagieren. Und so gierig man sich umschaut, um nur ja alles mitzukriegen, man ist doch nur eine Nummer, praktischerweise die Kabinennummer: 6208. Darauf reduzieren einen die Ausflüge, für die man sich schon eine Stunde vor Abfahrt in der großen Liste abhaken lassen muss. Um sich dann in Geduld zu üben. Und an den alten Landserspruch zu denken: Die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens. Wobei der Soldat sich damit trösten konnte: Wenigstens lebe ich ja noch. Und der Tourist sich sagt: Was so viele Menschen erleben wollen, das muss erlebenswert sein. Dabei werden einem die anderen, mit denen man auf Tuchfühlung zusammengepfercht ist, zu ersten Sehenswürdigkeiten – allerdings mit viel zu wenig Baedeker-Sternen.

Du bist Teil eines bunt gemischten Publikums. Jung und alt, noch jünger und noch älter. Und ein paar Kinder dazwischen, die in der Masse der Angestellten- und Rentnertypen untergehen. Niemand ist auf schön gemacht. Alle sind soweit aus ihrer Alltagsverkleidung ausgepellt, wie es nur geht. Doch mit der mehr oder weniger sportlichen oder peinlichen Restbekleidung erzielen sie immerhin ein individuelles Aussehen, sich deutlich vom monochromen Look einer Schafherde unterscheidend.

Es gilt keine besondere Kleiderordnung an Bord, nur die Vorschrift, die Herren sollten beim Abendessen lange Hosen tragen. Was manch einem schon übertrieben vorkommt. Ich finde, es sollte für die Damen eine entsprechende Vorschrift geben. Nicht für die Beine, die sich ja unterm Tisch verstecken, sondern für die obere Körperhälfte, die sich in Nacktheit nur zeigen lassen dürfte, wenn man noch daran vorbeischauen kann, ohne sich zu verrenken. Doch soweit, auch noch eine Maskenpflicht zu verlangen, will ich nicht gehen.

Dieses Restaurant und jenes Restaurant, jedes mit einem schönen Namen geschmückt, sie haben nicht nur die üblichen Vierertische, sondern auch Sechsertische und Achtertische. Da rückt man zusammen, beinahe wie zu Goethes Zeiten. Damals aß man in den Herbergen, in denen man auf der Reise eingekehrt war, an der Table d’hôte. Wobei das erste, das geschah, war: man stellte sich vor. Das hat sich grundlegend geändert. Heute bleibt man namenlos beieinander sitzen, auch wenn man sich freundlich über das schöne Wetter oder die Hitze oder das gute Essen austauscht. Anonymos unter Anonymen.

Rauf und runter, von einem Stockwerk – Kenner sagen: Deck –  zum nächsten oder mit einem der Fahrstühle das Schiff hinauf und hinab gehüpft. Ein Dutzend Decks. Doch wohin man auch läuft, überall die einheitliche Kühle, die von irgendwem als die optimale Temperatur festgelegt und über uns gestülpt wurde. So wohltemperiert sind wir im Bett wie auf der Toilette, im Restaurant wie beim Einkaufsbummel in dem Ladenviertel, in der Bordbibliothek und im Kino oder Theater, an der Bar, im Spielcasino und beim Bordarzt oder Masseur. Wir bewegen uns in der immer gleichen künstlichen Atmosphäre, sicher vor Sonne, Regen, Schnee und Hagel, vor Blitz und Sandsturm, vor Wüstenhitze und arktischer Kälte. Womit wir uns schon vorbereiten auf das Leben der Zukunft, das in einer  Weltraumstation stattfinden wird. Austritt nur an der Leine.

Gestern noch konkurrierte das Meer mit dem Tischwein. Ob rot oder weiß, es wurde nicht verraten, ob man zuviel getrunken hatte und deshalb schwankend seinen Weg suchte oder weil das Schiff den Wellen nachgab und uns den ondulierten Seemannsgang aufzwang. Die Wellen kamen von weither angerollt, die weißen Lippen geschürzt, begierig, den hellen Schiffsrumpf zu küssen. Dieser immer wiederholte Wonnedruck, dieses dauernde Schmatzen. Wer kann da noch ruhig geradeaus gehen.

Jetzt durch die Straße von Malakka. Plötzlich sind wir nicht mehr allein auf dem Überallwasser. Die berühmt-berüchtigte Meerenge, sie zeigt mir beim eulenhaften Backbord-Rundblick über 180 Grad schon mehr als zwanzig Schiffe. Groß und klein, nah und fern, vom imponierenden Fotomotiv bis zum schemenhaft sich nähernden Geisterboot. Und Steuerbord neben uns ein hochbeladener Containerkahn der Maersk Line, mit dem wir uns ein Rennen liefern, das wir verlieren. Die Container sind schneller als wir. Unser Schiff, obwohl noch jung und kräftig, 2007 in der norddeutschen Werft Papenburg gebaut, hat es nicht eilig. Erst am späten Nachmittag soll es die malaysische Stadt Penang anlaufen. Ein Kreuzfahrtschiff ist nicht dazu bestimmt, durch die Weltmeere zu kraulen, ist eher ein Rückenschwimmer, mit verträumtem Blick in die Wolken, die vor der Sonne paradieren, und in den wunderbar klaren nächtlichen Sternenhimmel.

Plötzlich Regen, der als gigantischer grauer Vorhang vor den Himmel gezogen wird. Regen oben, unten und dazwischen, Regen überall. Vom Wolkenhimmel bis zum Meer das verbindende Element, so dass die Horizontlinie, diese einzige Orientierungshilfe auf hoher See, unsichtbar wird. Da nützen nicht einmal die Blitze, die sich über die doppelte Weite des Spielfelds zu freuen scheinen. Wie sie wild herumtoben, dass es nur so kracht. Und den Seufzer hervorruft: Was auch immer man unserem Schiff an Attraktionen verpasst hat, ich kann nur hoffen, dass man darüber nicht vergessen hat, ihm einen Blitzableiter aufzupflanzen.

Eine schlaflose Stunde. Und die Beobachtung, dass Lichter im Überallschwarz der Nacht stecken. Fremdkörper. Wie Steine im Schwarzbrot. Aus einer anderen Welt stammend? Oder doch wohl nur Lichter eines Schiffes? Was sie erst recht einer anderen Welt zuteilt, weil ich nie erfahren werde, wer dort drüben mit diesen Lichtern wohin unterwegs ist und warum.

Am Nachmittag steht eine Versteigerung von Bildern an. Bunte Kritzelbilder von Rizzi, köstliche Cartoons von Peter Bauer, Phantastisches von Udo Lindenberg und Plakatives von einer russischen Malerin. Die zuhörenden Zuschauer wissen den Reiz des Bietgefechts zu genießen. Erst recht, wenn es um die Versteigerung des verhängten Bildes geht, Blind Date genannt. Und doch, nach langem Ziehen und Zerren der jungen Frau, die sehr geschickt den Hammer schwingt, geht auch diese Fahrt ins Unbekannte erfolgreich zu Ende. Ich habe nicht mitgeboten. Und ich wage nicht einmal, mir an der Nase zu jucken, obwohl die so reizt, als das nächste Objekt ausgelobt wird. Diese Handbewegung könnte mir schon den Zuschlag geben. Und was dann anfangen mit der ersteigerten Scheußlichkeit eines riesengroßen aufrecht stehenden Froschmenschen. Doch halten auch die anderen Passagiere sich bis auf wenige Ausnahmen beim Bieten eisern zurück. Man ist lieber Zuschauer/Zuhörer, genau wie am Abend beim Roulette und Black Jack im Spielcasino.

Malaysia ist zuerst Penang und wird danach Kuala Lumpur sein. Penang soll soviel heißen wie Betelnuss. Ein Hinweis darauf, welche Bedeutung dieser Handelsplatz für uns Europäer hatte. Gewürze haben unsere Vorfahren auf den Geschmack gebracht an diesem Fleck in der Welt des ewigen Schwitzens. Wenn wir jetzt die Häuser bestaunen, die sich erfolgreiche Geschäftsleute gebaut haben, Händler aus China und aus Indien, dann machen wir es uns in Fahrradrikschas bequem. Und die protzigen Limousinen genau wie die eiligen Mopeds respektieren uns auf den überfüllten Straßen. Dabei bestimmen hier in Penang einmal nicht die Touristen das Bild, trotz der drei großen Kreuzfahrtschiffe, die beinahe gleichzeitig eingelaufen sind. Viel bunter ist das Potpourri der Menschen aus Indien, China und Malaysia und so fort, das uns hier geboten wird.

Kuala Lumpur soll eine Art Koblenz sein, nur größer. Denn sein Name kommt von dem Zusammenfluss zweier Flüsse, die sich mitten in der Stadt vereinigen, aber viel kleiner sind als Rhein und Mosel. Die andere Doppelung, die für Kuala Lumpur steht, sind die Twin Towers. Die beiden gut 450 Meter hohen Türme, die in etwa 170 Meter Höhe eine Brücke verbindet. Da denke ich an den Kölner Dom, der 165 Meter hoch ist und ebenfalls zwei Türme hat, werde aber abgelenkt durch die wichtige Information aus dem Mund des örtlichen Reiseführers, dass man den Japanern und den Koreanern je einen Turm in Auftrag gegeben habe, um sie durch Konkurrenz zu besonderem Arbeitseifer anzustacheln. Dadurch sei dieses Superbauwerk in Superbauzeit errichtet worden. Hoffentlich hält es auch superlange.

Leider kann ich all die phantastischen Hochhäuser von Kuala Lumpur nicht mit Muße betrachten, weil ich mit niedergeschlagenem Blick durch die Stadt laufen muss. Das aber nicht als Demutshaltung, sondern um mir beim Herumhoppeln zwischen all den Baustellen nicht die Haxen zu brechen.

Der Menschenmischmasch Malaysias rekrutiert sich aus China und Indien und vielen arabischen Ländern, aber auch aus Europa. Sie alle stehen in harter Konkurrenz mit den Malaien: Wer ist heller. Wobei nicht der Verstand gemeint ist, sondern bloß die Hautfarbe. Denn die entscheidet immer noch darüber, wer einen besseren Job bekommt – oder den erfolgreicheren Ehemann.

Und wieder das weite Meer. Einmal den Blick rundschicken übers Wasser, Wasser, Wasser. Da wird das weite Meer so weit, dass ich es mit acht E schreiben möchte, für jede Himmelsrichtung eins und noch vier dazu, quasi als Zwischengänge für den Windgott Äolus: Das weite Meeeeeeeer.

Erfahrene Kreuzfahrt-Reisende schauen einen mitleidig an, wenn sie hören, dass man nie zuvor eine Fahrt mit einem der modernen Kreuzfahrtschiffe gemacht hat. Der Tourist mit dem Hilfigerhemd am Frühstückstisch hat die große weite Welt per Schiff erkundet. Auch einen Landausflug in die estnische Hauptstadt Tallin hat er gemacht. Man gönnt sich ja sonst nichts. Toller Blick vom Burgberg auf die Altstadt hinunter. Klasse Fotomotive, schwärmt er. Doch weiß er dann nichts mit meinem Ausdruck Baltikum anzufangen. Nein, er spreche nicht vom Balkan, sondern von Estland, das da oben im hohen Norden liegt.

An Bord ein gemischtes Publikum. Das heißt, die Alten haben ständig die Jungen vor Augen, und die Jungen haben immer wieder die Alten im Blick. Unvermeidlich. Das gibt Augenschäden. Zumindest gibt es Anflüge von Resignation und Verzweiflung. In leichteren Fällen handelt man sich nur  Ängste vorm Altwerden ein beziehungsweise wehmütige Erinnerungen an die verlorene Jugend. So oder so füllt das Leben an Bord individuelle Wunschballons, die uns voraus fliegen  – oder hinterher.

Singapur ist ein Inselstaat wie Hongkong, das heißt einem anderen Staat vor die Nase gesetzt und aus einer Hauptinsel und etlichen Komparsen-Inselchen bestehend. Dem Staat hinter einem zeigt man den nackten Hintern. Dabei muss man wissen, dass diese Unfreundlichkeit aus strategischen Überlegungen entstanden ist. Es ging den Gründern, selbstverständlich Engländern, um einen vorgeschobenen Erkundungsposten und sicheren Hafen.

Kein Zweifel, Singapur hat den wohl international ausgeschriebenen Architekten-Wettbewerb um die verrücktesten Hausungetüme gewonnen, nicht zuletzt mit dem Plattschiff auf drei Elefantenbeinen.

Und mitten in der Stadt als Kontrast das Wahrzeichen der Stadt, ein halber Löwe und halber Fisch, ein Getüm, das im Auftrag des Tourismusministers ohne Unterlass Wasser spucken muss. Erstaunlich bescheiden, wenn man dieses Wahrzeichen mit dem Eifelturm, der Towerbridge, dem Brandenburger Tor oder der Freiheitsstatue vergleicht. Aber dieses Kombitier ist ja sehr jung und wird sicherlich noch mächtig wachsen.

Immer dieses Glücksspiel, wenn unser Schiff in einen Hafen einläuft. Da sehen wir auf der Pier Dutzende Busse aufgereiht. Auf die werden wir Ausflügler verteilt, in Vierzigerportionen. Einem Menschen ausgeliefert, der das Mikrofon ergreift und sich mit einem Namen vorstellt, den man nicht versteht. Wenn man von den Erklärungen, die dann kommen, viel mitkriegt, hat man Glück, gibt es die Erläuterungen nur in nuscheligem Englisch oder in gebrochenem Deutsch, hat man Pech. Dem falschen Bus zugeteilt, da gibt es keinen Ausweg. Ein paar Stunden muss man aushalten ohne oder mit Aufklärung über das, was man sieht – oder was man eben nicht sieht, weil man nichts darüber weiß.

In Kuala Lumpur hatten wir Glück. Am Busmikrofon war bei der Rundfahrt Edi. Ein junger Malaie, der in München studiert hatte und von daher ein akzeptables Deutsch sprach, beinahe schon Hochdeutsch. So klein und grazil er war, er wusste uns die Großartigkeit der Architektur seiner Stadt fühlbar zu machen. In München habe er sich wohlgefühlt, gesteht er. Und das vor allem im Biergarten mit Bier und Leberkäs. Er habe sich sogar eine bayerische Lederhose gekauft. Was nicht so einfach war. Die Verkäuferin hat ihn in die Kinderabteilung geschickt, und da hat er seine Hose gefunden, so erzählt er lachend.

Erst recht in Singapur haben wir Glück. Gudrun ist eine gestandene Frau aus dem Fränkischen, die vor 30 Jahren nach Singapur ausgewandert ist. Weil sie in Deutschland keiner haben wollte, erklärt sie lachend. In Singapur aber doch. Sie weiß bestens Bescheid und bringt ihr Wissen und ihre intime Ortskenntnis mit soviel Begeisterung an, dass ich hinterher sagen möchte: Ich bin ein Singapurer.

Wie ich an der Anlegestelle auf dem Balkon meiner Schiffskabine sitze und die Gondeln der Seilbahn über mich hinweg ziehen sehe, versetzt es mich plötzlich in die Stimmung der Leute, die dort oben zu einer der Nebeninseln von Singapur hinüber schweben, wo sie irgendwas zu tun haben oder zuhause sind, und auf unser Schiff hinab sehen und sich sagen: So eine Kreuzfahrt auf einem großen Luxusliner müsste man machen können. Ja, möchte ich ihnen und mir antworten, so aus der Gondel auf das Schiff schauen zu können, das müsste herrlich sein. Das ist es, das uralte Problem, dass man nur entweder hier sein kann oder dort, aber nicht gleichzeitig da und hier. Erst das Fernsehen hat diese Unmöglichkeit überwunden, hat uns den uralten atavistischen Traum erfüllt, gleichzeitig an verschiedenen Orten zu sein. Schade, dass die Fernsehgewaltigen das vergessen haben und in ihrem Perfektionswahn uns kaum noch Live-Sendungen bieten, sondern bloß noch eine Konserve nach der anderen.

Mit verträumten Augen über diesem sanften Gewelle. Die Blicke über das weite Grau gleiten lassen. Da wie dort und nah wie fern nur das Ungeglättete sehen, das Immergleiche, das unendlich Belanglose. Wenn auch nur so flach, so weit, so leer, weil ich nicht fähig bin, einmal durch das raue Grau der Oberfläche hindurch zu sehen und mitzukriegen, wie unter diesem alles bedeckenden Tuch gejagt und geflohen wird, versteckt und entdeckt, wie überrascht und erschreckt, getötet und gestorben wird. Da wie dort und nah und fern und unter jedem meiner oberflächlichen Blicke.

Dunkle Jäger, diese weißbäuchigen Möwen mit den imponierend weit gespreizten Flügeln. Sie mögen mir verzeihen, dass ich ihren offiziellen Namen nicht kenne, kennen sie selbst ihn doch nicht. Sie zischen über unsere hohen Bugwellen hinweg, geschickt den weißen Spritzern ausweichend, um plötzlich in eine auslaufende Welle hineinzuschießen, wo sie ein Fressopfer erspäht haben. Wenn sie es nicht vorziehen, vor den Balkonen unseres Schiffes dicht an uns vorbei zu segeln, Fotomodelle, in Idealhaltung posierend, weil sie wissen, von wo ihnen Belohnung zugeworfen wird. Wer von uns bewundert sie nicht, diese herrlichen Segler? Wer beneidet sie nicht? Nur nicht daran erinnern, dass sie als die Ratten des Himmels bezeichnet werden. So was darf man nicht einmal denken. So elegant, wie die dunklen Jäger sich geben.

Was man so alles erfährt, wenn man den diversen Vorträgen zuhört oder sich die Informationsfilme ansieht, die auf dem täglich ausgedruckten Programm stehen. Jetzt weiß ich endlich: Weltweit werden mehr Menschen getötet, weil ihnen eine Kokosnuss auf den Kopf fällt, als durch Schlangenbisse ums Leben kommen. Nun ja, gegen die Schlangengifte gibt es allerlei Gegengifte und Hilfstechniken, doch das Newtonsche Gesetz gilt nach wie vor uneingeschränkt, solange man nicht als Astronaut in der Schwerelosigkeit herumturnt. Deshalb werden, wo sich Touristen aufhalten, den Kokospalmen die Nüsse schon lange vor der Reifung geraubt. Neben all ihrer Gefährlichkeit haben die Kokosnüsse aber auch noch ihre interessanten Seiten. Etwa die, dass sie überhaupt keine Nüsse sind, sondern Früchte, erfahre ich. Und ich werde auch darüber aufgeklärt, dass der Bast, der die Kokosnuss einhüllt, früher dazu verwendet wurde, daraus Schiffstaue zu drehen. Zu reepern, wie der Fachausdruck hieß. Und bin ich fast schon wieder daheim und ausgerechnet auf der Hamburger Reeperbahn.

Eine Stadt, die man noch nie gesehen hat, nach der anderen. Und überall auf den Märkten die prallen Früchte des Landes. Reif, reifer, am reifsten. Was für ein Anblick. Wie es sich wölbt und ausbeult und kugelt, wie es sich zum Platzen anbietet, zum Aufreißen oder Aufschneiden, zum Auslutschen, zum Schlucken. Ein köstliches Angebot nach dem anderen. Zurück auf dem Schiff dann die sonnenabgewandte Seite des Mondes. All das Vergehen, Verglühen, Vertrocknen, Verschrumpeln, all das Unansehnlichwerden. Weil die Touristen selbst bei bedecktem Himmel und trotz des permanent gebotenen Kältewinds der Klimatisierung das Bedürfnis haben, sich weitgehend entkleidet zu geben, um sich in ihr Urlaubsglück hineinsteigern zu können. Bedeutete das Paradies doch Nacktheit. Nun denn: Toleriere, Auge, was die Wimper hält!

Achtung, trotz der Fülle des Gebotenen, Aussteiger an Bord! Diese Kapselbewohner, die ihren Krimi vorm Gesicht tragen oder ihre Liebesgeschichte, einen bequemen Sessel unter sich. Mehr ist nicht nötig für den Ichaustritt, der nach Venedig entführt oder an den Mälarsee, in die Blue Lagune oder nach London oder Gott-Weiß-Wohin. Ich will es gar nicht wissen. Wer keine Urlaubslektüre mitgebracht hat, findet in der Bibliothek des Schiffes ein Sammelsurium von hinterlassenem Lesefutter, hauptsächlich Taschenbücher. Da stehen sie herum, die Lieblingswerke der Zeitgenossen, in den beiden halbleeren Regalen so ungeordnet wie das Leben selbst, angeblich auch so wahr. Nur die paar Passagiere, die abseits sitzen und vor sich hin readern, geben mit dieser up-to-daten Haltung vor, es besser zu wissen. Was aber nicht stört.

Wieso war mir Brunei bislang nur ein Wort ohne Inhalt? Wo doch in der Hauptstadt namens Bander Seri Begawan der größte permanent bewohnte Königspalast der Welt steht, in dem die weltälteste ununterbrochen regierende Dynastie lebt. So nach Angaben von Brunei Tourism. Die derzeit regierende Majestät, Sultan Haji Hassanal Bolkiah mit neunzehn weiteren Namen und Amtsbezeichnungen, ist der 29. Regent seiner Linie, die mit Sultan Muhammad im Jahre 1405 begonnen hat. Nun ja, den Königspalast habe ich nur von weitem zu sehen bekommen und die neue große Moschee bloß von außen. Doch durch das Brunei Museum musste ich auf Socken schlurfen, um die Insignien der Macht samt Thronsessel und Prachtkutsche sowie diverse Familien- und Sportfotos zu bewundern. Damit hatte ich einen tiefen Eindruck gewonnen von den beiden Säulen der Macht Bruneis: Königtum und Islam.

Den Eindruck konnten mir nicht einmal die kleinen Leute zerstören, etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung von knapp 400.000, die in einem auf Stützen stehenden Wasserdorf unter primitiven Bedingungen leben und dran glauben müssen, an die beiden Säulen der Macht.

In Vietnam, genauer: Im Hafen von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem ehemaligen Saigon, von Bord zu gehen, ist weniger kompliziert als im Hafen von Singapur, wo es allerlei Einreiseformalitäten zu erledigen galt. Ist halt ein Unterschied, ob man den Boden eines hocheffizienten privatkapitalistischen Landes wie Singapur betritt oder den Boden eines sozialistischen Staates, in dem ja niemand zu leben wünscht.

Der Hafen ist zweieinhalb Busstunden von der Hauptstadt entfernt. Deshalb keine Menschen, die begeistert zuschauen, wie ein großes Kreuzfahrtschiff anlegt oder ablegt. Kein Winken. Nur zwei Stände mit Andenkenkram sind auf dem Hafengelände aufgestellt. Bei unserer Abfahrt wird sofort alles wieder in den wartenden Toyota Rav 4 eingeladen. Aber weit und breit keine Wohnbebauung. Die Straßen zum Hafen sind noch in Arbeit. Nie habe ich auf einen Blick so viele Straßenwalzen gesehen. Noch herrscht hier das Gesetz der Infrastruktur. Lange, breite Asphaltbänder, die ins Unendliche zu führen scheinen und von denen hin und wieder im rechten Winkel lange, breite Asphaltbänder abgehen, die ebenfalls ins Unendliche führen wollen. Da und dort sind ganze Siedlungen im Planungszustand zu entdecken, weil die Anwohnerstraßen schon fertig sind, sogar mit Laternen bestückt, nur dass sie Brachland-Carrees einfrieden statt Häuserblocks.

Als sich unsere Landstraße auf beiden Seiten mit Hütten schmückt, die nach vorne als Läden und Werkstätten offen stehen, ist daran noch das Beste das Gewirr von Reklameschildern, hinter denen sich die Erbärmlichkeit versteckt. Was sich entziffern lässt, das sind da und dort die Lockrufe Massage und Karaoke. Verlockend natürlich nur für Einheimische, genau wie die Garküchen. Denn die Hütten bestehen aus Brettern, rostigen Blechen, vergammelten Segeltuch-Bespannungen und Schilfrohr. Dazwischen steht manchmal ein massiv gebautes dreigeschossiges Haus, dessen schön aufgelockerte Fassade, die wirkt wie aus einem Katalog, immer etwa drei Meter breit ist, und dessen glatte Seiten vergebens darauf warten, dass sich weitere Häuser anschmiegen. Schöne Zukunftshoffnungen. Doch die Gegenwart besteht aus den beiden endlosen Schlangen von Unrat, hauptsächlich Plastik, die sich rechts und links der Straße hinziehen.

Vietnam ist für mich auch die riesige Plantage von Kautschukbäumen, die fein geordnet mit anderthalb Metern Abstand angetreten sind. Zigtausende. Alle tragen sie wie Soldaten voller Stolz ihre schrägen Schnittwunden, unter denen wie Orden kleine Schalen zur Aufnahme des weißen Saftes befestigt sind. Geschnitten und geerntet wird nur morgens zwischen 4 und 7 Uhr. Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod. Denn mit fünfundzwanzig sind sie erledigt und werden durch neue ersetzt.

Wo sind die Reisenden früherer Tage geblieben, die sich die Zeit nahmen, ein Reisetagebuch zu führen und zu zeichnen oder zu malen, was ihnen Großartiges vor Augen kam? Der Tourist von heute hat immer die Kamera in der Hand. Oder er hält sein Handy mit dem kleinen Loch hoch. Oder das Tablet. Mit diesen Geräten hält er alles fest, was ihm begegnet. Ob er fotografiert oder nur knipst, er braucht nicht mehr daran zu denken, dass er nicht genügend Filmmaterial bei sich hat. Trinke, Linse, was das Auge nicht zu halten vermag. Das Problem des Wohin mit den vielen Bildern kommt ja erst später auf einen zu. Im Urlaub belastet man sich nicht mit solchen Fragen. Trinke, Linse, trinke! Man denkt erst recht nicht ans Wozu. Weiß man doch schon: Man wird dieses Bild und jenes Bild an den Freund und an die Freundin senden, als eMail-Anhang. Und die schönsten Aufnahmen postet man hinterher bei Facebook, der unersättlichen Müllhalde, die alles schluckt.

Auf dem Pooldeck Liege an Liege mit dem gegen ein Pfandgeld geliehenen gelben Badetuch darauf. Um seinen Platz zu markieren, legt man das Taschenbuch darauf, das man zu lesen angefangen hat. Das genügt zur Personifizierung: Hier bin ich der Platzhirsch. Dabei unterscheiden sich die Krimis doch kaum.

Diese Art der Kreuzfahrerei ist eigentlich das genaue Gegenteil zur klassischen Seefahrt. Denn die war nicht durch Faulenzen und Sich-Überfressen gekennzeichnet, sondern durch harte Arbeit und Hunger und Durst. Musste doch immer wieder in die Takelage geklettert werden, und das Deck war mit eifrigem Schrubben von Möwenschiss und Salz zu befreien. Die Netze waren auszuwerfen und einzuholen und zu reparieren. Dabei gab es neben Fisch nur hartes, uraltes Brot und Fleisch voller Maden und aufgefangenes Regenwasser. Und nur wenn der Schiffer schon sehr aufgeklärt war, hatte man wenigstens genügend Sauerkraut an Bord, um sich  gegen Skorbut und Tod zu schützen. Dagegen sind die Kreuzfahrtschiffe voller Tiefkühlanlagen in Edelstahl, und sie führen eigene Bäckereien mit sich sowie höchst ergiebige Wasseraufbereitungsanlagen. Und gegen aufkommende Langeweile gibt es Spiele aller Art, Kindereien im Wettbewerb für Jedermann. So dass sich der Scherz bestätigt: Auch faulenzen ist ein Tätigkeitswort.

Es ist der endlos gedehnte, ja, überdehnte Rückflug nach Deutschland, der einen erst so richtig erfassen lässt, was man gerade verloren hat: Die Geborgenheit im Beutel der Kängurumutter, als man ohne eigene Anstrengung unterwegs war, immer bestens versorgt an den strotzenden Zitzen.

Beim Heimflug überrascht mich ein Mitreisender mit der Berechnung, die er angestellt hat: Wir haben mit dieser Reise zweimal 10 000 km Flug hinter uns gebracht, dazu 2 000 km Busfahrt auf der vorgeschalteten Rundreise in Thailand, 7 000 km Schiffsreise im Südchinesischen Meer und 500 km auf den Busausflügen in Singapur, Malaysia, Brunei und Vietnam, haben also insgesamt etwa dreiviertel des Erdumfangs gemacht, und das für rund viertausend Euro pro Person, was ja nun wirklich nicht teuer ist. Da kann ich nur nicken und schweigen. Ich war schon immer schlecht im Rechnen.

Nun bin ich gespannt, wann die erste Reederei darauf kommt, den Wohlstandsbürgern, die alles im Überfluss haben und schon fast alle Attraktionen der Welt besucht und geknipst haben, eine Seefahrt nach altem Muster anzubieten. Unter dem modernen Stichwort Abenteuerreise muss es doch auch möglich sein, zahlungskräftige Passagiere, die zeigen wollen, dass sie hart im Nehmen sind, auf primitive Schiffe zu locken. Für Fahrten voller Hunger und Durst und harter Arbeit unter Lebensgefahr. Natürlich unter der Regie eines total verkommenen und brutalen Kapitäns. Die Werbung könnte nach dem Motto laufen: Captain’s Dinner auf der Bounty.

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