Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

Literatur als Likör

(Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand, Roman, aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn, Verlag Carl’s Books, München 2011, 416 Seiten, Pappband 14,99 Euro, Originalausgabe bei Piratförlaget, Stockholm 2009)

Schade, dass das Buch zu spät geschrieben wurde für eine Verfilmung mit Walter Matthau in der Hauptrolle. Ihn sieht man unwillkürlich als den Hundertjährigen vor sich, als diesen schon leicht verdaddelten, aber immer noch pfiffigen und so herrlich schnodderig mit seinen Zeitgenossen umspringenden Altenheimflüchtling Allan Karlsson. Aber mit Walter Matthau im Film wäre man wieder der üblichen Täuschung erlegen, die stets überlegenen Winkelzüge und umwerfend komischen Repliken dem Schauspieler zuzuschreiben statt dem Autor, der sie sich hat einfallen lassen, und der Übersetzerin, die dafür die passenden Ausdrücke gefunden hat.

Also doch lieber bei dem Buch bleiben. Da steigt ein Hundertjähriger am Montag, den 2. Mai des Jahres 2005 eine Stunde vor seiner offiziellen Geburtstagsfeier aus dem Fenster des Altenheims in einer schwedischen Kleinstadt – zum Glück liegt sein Zimmer im Erdgeschoss – und verschwindet zum Bahnhof. Dort stiehlt er einen Koffer und ist plötzlich ein reicher Mann, aber auch ein Mann auf der Flucht. Denn nicht nur die Leitung des Altenheims und der Stadt sucht nach ihm, auch eine Verbrecherbande ist ihm auf den Fersen, zudem die Kriminalpolizei und schon bald die gesamte Presse Schwedens. Der Alte bleibt nicht lange allein. Immer mehr kuriose Typen tun sich mit ihm zusammen, bleiben an ihm kleben, wie an einem Fliegenfänger. Und den Lesern geht es nicht anders. Kein Wunder, wird einem doch ein geschickt konstruierter Krimi serviert, mit einem Toten nach dem anderen, wie sich das so gehört. Ein Schwedenkrimi, was ja neuerdings schon so was wie ein Markenzeichen ist.

Zum Krimi als Literaturgattung hat der Rezensent seine eigene Meinung. Eine nicht gerade positive. Danach ist der Krimi der Rennwagen der Literatur, aufregend aufgemotzt, aber zu nichts nütze, von einem gefahren, der nichts anderes kann als fahren und nur darauf aus ist, an ein Ziel zu kommen, das kein Ziel ist. Also etwas absolut Belangloses, nur dass es spannend ist.

Den an sich belanglosen Krimi dadurch zu veredeln, dass man ihn zur Lächerlichkeit, also zur Kriminalkomödie macht, ist schön, aber nicht neu. Immerhin hat Jonas Jonasson sein Buch damit in eine Riege gehoben, in der man nicht mehr bloß von Spannung schwärmt, sondern schon sprachlichen Genuss haben kann. Was der Autor aber dann alles mit seinem Hundertjährigen anstellt, hievt sein Buch in die literarische Oberliga, nämlich beinahe schon in die Kategorie Schelmenroman. Jonasson unterschneidet die in der Gegenwart spielende Handlung, als ob die nicht schon chaotisch genug wäre, immer wieder mit Szenen aus dem früheren Leben des Hundertjährigen, angefangen mit seiner Geburt als Sohn einer Frau, die für das Frauenwahlrecht kämpfte, und eines gewalttätigen Eisenbahners, der sich schon bald nach Russland davonmachte, um den Zaren zu stürzen.

So politisch aktiv die Eltern waren, so hartnäckig unpolitisch ist der Sohn, der dabei dennoch in das Geschäft der großen Politik des 20. Jahrhunderts verwickelt wird. So unglaublich es ist, so plausibel wird dem Leser erzählt, wie Allan Karlsson im spanischen Bürgerkrieg General Franco das Leben rettet und sein Freund wird, wie er den Amerikanern den entscheidenden Tipp zum Bau der Atombombe gibt und wie er der Duzfreund von Präsident Truman wird. Er begegnet Chiang Kai-shek und Mao Tse-tung, die er für sich einnimmt, lernt weitere amerikanischen Präsidenten kennen und nur mehr oder weniger schätzen und baut eine indonesische Analphabetin zur Präsidentin ihres Landes auf.

Das heißt: Der völlig unpolitische Abenteurer Karlsson wird zu einer wichtigen politischen Figur. Er hat das Atompatt zwischen Amerika und Russland hergestellt, nur um seine Ruhe zu haben, sein Essen und seinen regelmäßigen Schnaps. Dafür ist er mal Staatsgast und mal Häftling, überquert mal den Himalaja zu Fuß und schafft es erst nach einer höchst abenteuerlichen Odyssee, wieder in seine schwedische Heimat zu gelangen, zu der es ihn hinzieht.

Das alles in einer gefälligen und einfachen Sprache gebracht, gewürzt mit vielen Nebenbemerkungen, die so herrlich lakonisch und ironisch daherkommen, dass die Leser schmunzeln und sich absolut überlegen vorkommen dürfen.

Das Buch zeigt, wie man einen Bestseller für Jedermann und Jedefrau schreibt: Mit überschäumender Phantasie, mit hintergründiger Durchleuchtung der Großen der Welt und ihrer Großtaten, wobei man selbstverständlich Problemfälle wie Nazis oder Holocaust weglässt, mit einem Streifzug durch fast alle Ecken der Welt, mit dem Aufbau einer Hauptfigur, die mehr mit ihrem naiven Selbstvertrauen imponiert als mit Untaten, und mit dem Verzicht darauf, den Lesern hohe Ideale und hehre Ziele zu empfehlen. So fühlen sich die Leser nicht nur optimal unterhalten, sondern auch besser informiert als von dem besten Leitartikel eines politischen Redakteurs: Literatur als Likör.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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