In China auf dem Kaiserkanal (1993)

Graubraun ist die Farbe der Arbeit. Sogar der Rost der tausend Sampans, die längst keinen Anstrich mehr erkennen lassen, ist graubraun. Und das vielgerühmte Lied der Arbeit ist ein hartes, lautes Tackern. Die auf jedem Heck frei im Fahrtwind stehenden Motoren mit ihrem überkochenden Kühlwasser singen es: tack-tack-tack-tack-tack-tack. Ein, zwei oder gar vier Motoren nebeneinander. Davor, an der rostigen Ruderstange im Tackerlärm, sitzt der Mann, klein, halbnackt, die Zigarette zwischen den verkniffenen Lippen. Vorn auf dem niedrigen Steven steht die junge Frau, in bunter Bluse und Jeans. Eine Galionsfigur der Arbeit. Sie schwenkt ein weißes oder rotes Fähnchen an kurzer Stange, dirigiert damit den Gegenverkehr um ihren Kahn herum. Mitschiffs spielt ein Kind auf kleinster Fläche, mit Brustgeschirr und Stoffriemen an das Schiff gefesselt, als sollte es so früh wie möglich an diese lebenslange Bindung gewöhnt werden. Die braunen Wellen lappen über die Bordwand, in der Mitte liegt das Boot gerade in Wasserhöhe. Darüber zerrt Wäsche an der Leine. Schwarzer Qualm als einziger Fahnenschmuck: Ein Arbeitsschiff auf dem Kaiserkanal, der auch der Große Kanal genannt wird. Die Verbindung von Nordchina mit Südchina. Einzelne Stücke dieses längsten von Menschenhand geschaffenen Kanals der Welt sind schon vor zweieinhalbtausend Jahren gebaut worden.

Eine gigantische Wasserstraße, dabei ist kaum noch Wasser zu sehen zwischen den vielen Schiffen, die auf ihr unterwegs sind. Fast unmöglich, sich auf einen Kahn zu konzentrieren, so wie sie hier gegen- und umeinander tackern. Immer Dutzende auf einmal im Blick. Unser Touristenschiff überholt gerade einen Lastzug von etwa zwanzig solcher Boote. Es wird eng. Man fährt zwar rechts, aber jetzt sind es schon drei, dann sogar vier Kähne, die nebeneinander fahren, teils in die Richtung, teils in die andere. Der Lastzug, Kahn an Kahn gebunden, ohne freies Spiel dazwischen, windet sich wie eine Wasserschlange, stößt seitlich gegen das Touristenschiff, drückt es einfach beiseite, hält mal mehr Abstand und kommt dann schnell wieder bedrohlich nahe. Doch das Boot mit den Reisenden schiebt sich unbeirrt weiter an dem Lastzug entlang und zeigt den eifrig fotografierenden Fremden Kahn für Kahn das gleiche Bild: Die Schifferfamilie sitzt oder schläft unter dem Sonnenzelt. Das Prinzip Schlange, es ist offenbar wunderbar entlastend. Nur der Kopf der Schlange, sie sehen es schließlich beim Vorbeifahren, ist wach. Und wie wach. Vier Männer in der Bugkanzel des Schleppkahns. Sie starren nach vorn und nach beiden Seiten. Kaum daß sie Zeit haben, das fröhliche Winken der Touristen kurz zu erwidern, mit einem hellen Auflachen.

Das Sicheinreihen, hier wird es vorgeführt als die bequemere Art, sein Leben zu leben. Die allein fahrenden Kähne dagegen demonstrieren einen Individualismus, der in diesem Land befremdlich wirkt. Wie die Frauen immer wieder die Fähnchen hinter sich werfen und nach den langen Bambusstangen greifen müssen, sich hastig von anderen Kähnen abstoßen oder auch vom Kanalboden oder von der Uferböschung. Kaum daß sie es mit ihren schwachen Armen schaffen, die schwere Stange hinüber und herüber zu schwingen. Ein kurzer Ruf, ein Wink zu ihrem Mann am Steuerruder: Nur im schnellen Zusammenspiel von Mann und Frau kommen sie vorwärts. Der Individualismus, hier ist er also zumindest doppelgesichtig.

Das aufgewühlte Wasser des Kanals umspielt die niedrigen Häuser an den Ufern rechts und links, fließt die Gartenwege hinauf als wollte es die Häuschen mitnehmen. Die Gerüche, die den Kanal umwehen, wechseln: Fäulnis, Kloake, Abgase, Ruß und Silo. So kriegen sie mühsam differenzierend Bezeichnungen. Dort vor den Silos liegen Schiffe, die kaum noch als solche zu erkennen sind unter den hoch aufgestapelten Strohmassen. Nur das letzte Stückchen Boot mit den freistehenden Rostmotoren schaut noch aus dem Überallgelb hervor. Fast so peinlich unschön wie ein nackter Pavianhintern, kommt es mir völlig unpassend in den Sinn.

Felder, Maulbeerbaumpflanzungen neben uns, dann auf einmal  schornsteinbewehrte, röhrenstarrende Industrie, qualmgeflaggt. Und schon wieder wird es bedrohlich eng. Überholvorgänge rechts wie links. Hinter uns ist ein Kahn so heftig gerammt worden, daß er plötzlich quer im Kanal liegt. Heftiges Stochern, Winken, Schreien. Das unaufhaltsame Tack-Tack-Tack-Tack rundum fordert unbarmherzig freie Fahrt. Ein Polizeiboot mitten im Gewühl. Mit dem Jaulton, der aus amerikanischen Krimis entlehnt ist, hatte es sich herangedrängt. Per Lautsprecher und mit heftigem Gestikulieren sucht die Polizei die Wirrnis zu entwirren.

Die Galionsfrauen schwingen umso heftiger die Fähnchen, stochern wie wild mit den langen Stangen herum. Heldinnen der Arbeit auf den Schiffssteven, mindestens so imponierend wie sozialistische Denkmäler auf ihren Sockeln.

Nur gelegentlich ein etwas neuerer Kahn mit grüner Farbe. Wie der dort, ein Holzkahn. Er wird schon bald nicht mehr auffallen in dem Chor, der gleichgestimmt sein Lied der Arbeit tackert: in graubraun gekleidet. Wie ungewöhnlich das hier ist, ein Schiff aus Holz. In den langen Lastzügen nur Stahlboote, gedrungen und hochbordig. Die Einzelkähne dagegen sind meist Betonboote, flach, breit und behäbig. Die reine Zweckmäßigkeit, keinerlei bemühtes Design. Werkeltagskähne, Arbeitsschiffe, steingewordene Lastesel. Und manches Heck, mancher Bug zeigt mit zerbröckelten Betonkanten die Spuren der tagtäglichen Auseinandersetzung auf dem zu eng gewordenen Kanal. Gezeichnet von einem langen Arbeitsleben. Aber unverdrossen weiter im graubraunen Tack-Tack-Tack.

Merkwürdig, daß man sich überhaupt nicht fragt, wieso mitten dazwischen ein Schiff Touristen transportiert. Daß man sich eher fragt, was all diese Schiffe rundum hin und her zu schleppen haben. Kähne voller Steinbrocken oder Zement oder Baumstämme oder Pappe oder Bastmatten oder mit geheimnisvoll weißen Säcken beladen oder mit Kohlen oder Kunststoffabfallballen oder Melonen, Stahlblechen, Drahtrollen, Fässern. Und fast immer ein Fahrrad mit an Bord. Hin und wieder auch ein Hund oder eine Katze. Da und dort Blumentöpfe auf dem Kajütdach. Die Einzelkähne, die Omnia-Mea-Porto-Schiffe sind die aufregendsten. Weil sie sich so gleichen. Gleich jung die Schiffsleute und gleich hart und verarbeitet die Gesichter, und immer gleich auch das eine Kind in seinem Geschirr. Nur ganz ausnahmsweise mal ein Paar, das sich die zehntausend Yüan Strafe für das zweite Kind geleistet hat oder beim ersten Kind Pech gehabt hat – ein Mädchen. Oh Schande, daß man schon so mitdenkt.
(Entnommen meinem China-Buch “Odysseus’ Dilemma“, netzine.de/edition, Mannheim 2001, Paperback 348 Seiten, 14.75 Euro, ISBN 3-00-004700-X)

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