Im toten Winkel

(Im toten Winkel, D 2001, 90 Min., Regie: André Heller)

Einen abendfüllenden Kinofilm zu präsentieren, der nur aus dem Interview mit einer einundachtzigjährigen Frau und einigen zusätzlichen Interviewfetzen bei der Vorführung der Aufnahmen vor der Interviewten besteht, dazu gehört Mut. Aber daran mangelt es dem Schriftsteller und künstlerischen Tausendsassa André Heller nicht. Das weiß man längst. Schon eher überrascht, wie er sich selbst dabei total zurücknimmt: Nicht ein einziges Mal im Bild, und auch aus dem off nur zwei, drei mal mit fast unverständlich bleibenden Kurzfragen zu hören.

Zu dem Mut und der Zurückhaltung des Interviewers paßt die Haltung des Kameramannes Othmar Schmiderer, der auf ateliermäßige Ausleuchtung der Münchner Einzimmerwohnung der Interviewten genauso großzügig verzichtet, wie auf die Beweglichkeit der Kamera und alle Tricks. Mit wenigen starren Einstellungen unterstreicht er den Dokumentarcharakter des Films. Natürlich geht er dabei nicht soweit, wie man das von den Experimenten des Cinéma-vérité her kennt. Dann hätte er das gesamte zehnstündige gedrehte Material vorführen müssen. Auch nichts mit Steadycam. Schmiderer vermeidet die notwendigen Zäsuren nicht, er kaschiert sie aber auch nicht mit dem üblichen Zwischenschnittmaterial der Verlegenheit. Er macht scharfe Schnitte und mutet dem Zuschauer Schwarzblenden zu, wie der sie nicht gewohnt ist. Dabei scheut der Film nicht einmal davor zurück, nicht lippensynchrone Sequenzen der Interviewten zu zeigen, die mit dem Gegenformulieren beschäftigt zu sein scheint, während sie den Aufnahmen lauscht und sich selbst auf dem Bildschirm betrachtet.

Der frappierende Purismus dieses Dokumentarfilms ist seinem Gegenstand adäquat. Denn es spricht Traudl Junge, die letzte Zeitzeugin aus dem engsten Kreis um Adolf Hitler. Diese gut aussehende alte Frau, die druckreif spricht und deren Mimik und feine Gestik zu studieren man nicht leid wird, berichtet, wie sie als junges, tanzbegeistertes Mädchen 1943 eine der Privatsekretärinnen Hitlers wurde. Wie sie auf den Berghof und sogar ins Führerhauptquartier Wolfsschanze kam, wo sie ihren ramponierten Chef als Überlebenden des Attentats vom 20. Juli 1944 sah. Und wie sie schließlich seine letzten Wochen im Berliner Führerbunker unter dem pausenlosen Beschuß durch die Rote Armee miterlebte. Schildert auch sein Erstarren in der täglichen Routine der Banalität und in Hoffnungslosigkeit, das ihn schließlich zum gemeinsamen Selbstmord mit der noch schnell geheirateten Eva Braun trieb, nachdem er seiner jüngsten Sekretärin Traudl Junge noch sein politisches und sein persönliches Testament diktiert hat.

Der Film macht deutlich, daß Adolf Hitler nicht nur einer der großen Massenmörder des 20. Jahrhunderts war, neben Stalin und Mao und Pol Pot, sondern auch eine Ausnahmepersönlichkeit, die faszinierte. Weil dieser allgewaltige Herrscher im persönlichen Umgang so überraschend freundlich und bescheiden war. Und weil in den Menschen seiner nächsten Umgebung das Gefühl entstand, daß dieser Mann einer Vision lebte, zu deren Verwirklichung allen persönlichen Skrupeln zum Trotz er sich von der Vorsehung berufen fühlte.

Wie Traudl Junge in diesem Lebensresümee zuletzt auch auf die eigene Verantwortung und Mitschuld eingeht, hört sich ein wenig nach Pflichtübung an und ist eigentlich überflüssig, nachdem sie sich als ein naives und spätentwickeltes Mädchen charakterisiert hatte, das ohne Vater aufgewachsen war und Hitler als Ersatzvater sah. Dazu paßt eine Kleinigkeit, die nur dem auffallen kann, der sich bereits mit den Verhältnissen im Hitlerbunker auskennt. Traudl Junge sagt, daß sie besondere Schreibmaschinen benutzten, zögert einen Moment und reicht dann als Erklärung nach: Besonders leise. Ohne zu sagen, warum und wieso. Da drängt sich die Vermutung auf, daß sie beinahe gesagt hätte, daß sie auf Schreibmaschinen mit besonders großer Type schrieben, damit Hitler nicht für jeden Spickzettel die Brille aus der Tasche holen und aufsetzen mußte. Eine Methode der Tarnung von Hilfsbedürftigkeit, wie sie nicht nur bei Hitler, sondern auch bei vielen anderen Großen üblich war und ist. Daß die ehemalige Privatsekretärin noch bis an ihr Lebensende dieses kleine Geheimnis zu bewahren suchte, zeigt, wie eng die Bindung an ihren Chef und Ersatzvater war.

Der Film wurde bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin im Februar 2002 uraufgeführt und mit dem Panorama-Publikumspreis ausgezeichnet. Unbedingt berechtigt, denn hier ist ein Zeitdokument von Rang zu besichtigen. Wenige Stunden nach der Uraufführung erlag die Protagonistin des Films ihrer schweren Krebserkrankung.

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