Hans Joachim Schädlich: “Sire, ich eile…”

 

Jonglieren mit drei Bällen

(Hans Joachim Schädlich: „Sire, ich eile …“ Voltaire bei Friedrich II., Novelle, gebunden, 144 Seiten, Rowohlt Reinbek 2012, 16,95 EURO,  ISBN 9783498064167)

Erster Eindruck: Ein Stück Erzählliteratur mit dem Charme eines kommunalen Melderegisters. Was ist da passiert? –  Ein moderner Autor hat sich auf die Suche gemacht nach einer neuen, einer modernen Erzählform. Offenbar frustriert von dem Geschreibsel der Bestsellerautoren, das gebunden und in Taschenbuchform als Stapelware in den Buchhandlungen liegt. Dieses belanglose Lesefutter, bei dem auch noch das Kragenhochstellen der fünfundzwanzigsten Nebenfigur ausführlich geschildert ist und das Geschwätz der Leute eins zu eins wiedergegeben wird. Auf dass ein Buchklotz von wenigstens 700 Seiten zustande komme, quasi der papierene Goldbarren der Buchbranche. Nie war Gold weniger werthaltig.

Doch was wie ein Muss aussieht, ist auf dem Buchmarkt zum Glück noch nicht alleinherrschend. Schon haben sich Autoren, in verschiedene Richtungen eilend, von diesem Spuk freigestrampelt. Der eine vermeidet fast jede wörtliche Rede, der andere versucht sich in bemüht altertümlicher Ausdrucksweise, wieder ein anderer wiederholt sich selbst in schier endlos erscheinenden Variationen des gerade Gesagten. Hier schreibt einer alles im Konjunktiv, dort nur noch in Frageform. Der Autor Schädlich macht in totaler  Reduktion. All das ist Experimentalliteratur, entsprechend mühsam zu goutieren. Und doch anerkennenswert und durchaus auch lesbar. In einer Zeit, in der die Sprache Tag für Tag durch Presse und Politiker ruiniert wird, suchen ernsthafte Autoren jenseits des Gewöhnlichen nach neuen Erzählformen. Wohl wissend, dass sie damit einem der ältesten Bedürfnisse der Menschheit dienen, nämlich dem, sich etwas erzählen zu lassen. Schon die Geschichtenerzähler an den Stadttoren Babylons machten sich ja nicht nur durch den Inhalt ihrer Geschichten Konkurrenz, sondern mit Sicherheit auch durch die besondere Geschicklichkeit, in der sie ihre Ware gegen kleine Münze servierten. Jeder darum bemüht, dass die Zuhörer die Stadt durch „sein“ Tor verlassen, weil sie dort beim Zuhören besonderen Genuss erwarten können.

Und wie steht es mit dem Genuss bei Schädlichs Novelle über Voltaire und den Preußenkönig? – Nach anfänglicher Irritation wegen der vielen Namen, die einem – wie auf losen Zetteln mit Kurzangaben notiert – entgegen flattern, nimmt eine Frau Gestalt an: Gabrielle-Émilie Le Tonnelier de  Breteuil, die sehr schnell durch Heirat zur Madame Émilie du Châtelet wird. Sie bekommt Kinder, die ihr nichts bedeuten, und wird Geliebte bedeutender Männer und bildet sich bei alledem intensiv weiter in modernen Wissenschaften wie Mathematik und Physik, weil ihr die Beschäftigung mit Philosophie und Fremdsprachen nicht genügt, nicht einmal das Übersetzen aus dem Lateinischen und Englischen oder der Briefwechsel mit Friedrich von Preußen. Der Autor Schädlich schildert mit offensichtlicher Sympathie eine Intellektuelle, die sich selbst als ein geistiges Wesen beschreibt. Émilie fordert, einen Missbrauch abzuschaffen, der die Hälfte der Menschheit zurücksetzt. „Wenn ich König wäre, … ich würde Frauen an allen Menschenrechten teilhaben lassen“, schreibt sie im Kommentar zu ihrer Übersetzung von Mandevilles „The Fable of  the Bees“.

Mit diesem Porträt der Émilie liefert Schädlich etwas, das über den programmatischen Titel seiner Novelle hinausgeht. Er zeichnet eine moderne, eine gebildete und selbstbewusste Frau. Und indem er seine Leser miterleben lässt, wie diese erstaunliche Frau Voltaires Geliebte und dann seine Lebenspartnerin wird, malt er auch schon am Bild dieses Philosophen. Der Mann, den Émilie bewundert, wird zum Zankapfel zwischen ihr und Friedrich von Preußen, der ihn ebenfalls bewundert. Sie will ihn so total besitzen, wie der Kronprinz und spätere König ihn besitzen will. Und Voltaire, der sich geschmeichelt fühlt von der Begeisterung des Preußen, registriert zwar die wechselseitige Abneigung der beiden Menschen, die an ihm zerren, folgt aber nicht der Skeptik und den Ratschlägen seiner Émilie, sondern lässt sich von Friedrich einfangen.

Damit zeichnet Schädlich, ohne auf die Inhalte der Voltaireschen Veröffentlichungen einzugehen ein Bild des berühmten Philosophen, das einer Demaskierung des Intellektuellen gleichkommt: Gutgläubig wie ein Schuljunge, dabei grenzenlos ehrpusselig und idealistisch. Was er selbst so rechtfertigt: „Ich habe so viele arme und verachtete Schriftsteller gesehen, dass ich schon vor langer Zeit beschlossen habe, ihre Zahl nicht auch noch zu erhöhen.“

Im selben Atemzug wird der König decouvriert. Hier ist der französische Ausdruck passend, da der Preußenkönig stolz darauf ist, nur Französisch zu sprechen und zu schreiben, weil er die deutschen Dialekte verachtet. Ein paar Zitate aus Briefen des Königs an seinen ehemaligen Kammerdiener in Rheinsberg, in denen er versucht hat, in Deutsch zu schreiben, sind ein grausiger Jux. Sie sind auch ein aktueller Kommentar zu dem Verrat der heutigen Politiker – besonders in Brüssel – an ihrer deutschen Muttersprache.

Dem glänzender Aufstieg Voltaires zum Lieblingsunterhalter des Herrschers folgt ein entsprechend jämmerlicher Fall, als der König genug hat von dem Geistesheros. Er wirft die Orange, die er ausgepresst hat, als leere Schale weg, wie er sich auszudrücken beliebt.

Das Doppelporträt des Philosophen und des Herrschers, angereichert mit der besonders ergreifenden Zugabe Émilie, entpuppt sich überm Lesen mehr und mehr als ein geglücktes Jonglieren mit drei Bällen, von denen einer immer in der Luft ist. Und dass die Bälle klein gehalten wurden, macht sie nicht nur besonders griffig, es lässt auch viel besser hinter das schöne Spiel schauen, dorthin, wo grundsätzliche Erkenntnisse des menschlichen Zusammenlebens aufscheinen. So wird aus Reduktion  Intensität. Was einem anfangs wie ein Melderegister vorkam, das wirkt schließlich wie eine gelungene Generalisierung: So nämlich sind sie, die Menschen, egal ob mächtig durch Soldaten oder durch überlegenen Geist oder durch das bessere weibliche Verständnis.

 (Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

Dieser Beitrag wurde unter Buchbesprechung veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.