Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge

Durchhalten!

(Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge, Erzählung, aus dem Dänischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Helmut de Boor, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1936, gebunden 78 Seiten)

Ausnahmsweise einmal keine Neuerscheinung, um die es hier geht, sondern aus gutem Grund der Griff nach einem bejahrten Erfolgsbuch. Weil ich im Sommer 2006 als Gast in dem Haus lebe, das der Autor dieses Buches sich gebaut hat und in dem er auch gestorben ist, im Gunnarshus, wie es heute heißt, in Islands Hauptstadt Reykjavik.

Ein Mann bricht am 1. Adventssonntag ins Hochgebirge Islands auf, um noch rechtzeitig vor dem Einbruch des strengen Winters die Schafe zu retten und zu ihren Besitzern heimzubringen, die bei der großen Sammelaktion im Herbst nicht aufzutreiben waren, weil sie sich verirrt hatten. Der Mann ist Knecht und hat eigentlich jetzt seine ruhige Zeit. Doch geht er dieser selbstgestellten Aufgabe seit 27 Jahren nach, weil er den Gedanken nicht ertragen kann, daß die wehrlosen und ziellos herumstreunenden Tiere, wie er selbst Geschöpfe Gottes, den Schneestürmen zum Opfer fallen. Er ist bei dieser Suche nicht allein. Stets begleiten ihn sein kluger Hund und sein unerschütterlicher Leithammel.

Diesmal scheint der harte Winter früher einsetzen zu wollen, weshalb ihm gutmeinende Bauern von der Suchaktion abraten. Doch geht dem Mann nicht aus dem Kopf, daß er als 27-Jähriger das erste Mal zur Schafsuche aufgebrochen ist, daß er also jetzt eine Art Jubiläum feiert. Das ist die eine Komponente, die den gutwilligen Toren zeichnet, die andere ist seine Erinnerung an fromme Sprüche aus der Bibel und aus dem Mund des Pastors. Dazu kommt, daß er mit seinem Hund und seinem Widder eine Dreieinigkeit darstellt, die gewohnt ist, wortlos und doch perfekt zusammenzuarbeiten. Die beiden Tiere werden dabei so menschlich dargestellt, wie der Mann als das grosse Leittier. Nur daß dieses Leittier eine Psyche hat, die ausführlich zu Wort kommt, mit all ihren Wünschen und Bedenken und Ängsten und ihrem Trotz. Insgesamt verrät diese berühmte kleine Geschichte mehr über die innere Suche als über die Suche nach den Schafen. Darin ist sie einer anderen berühmten kleinen Geschichte ähnlich, nämlich Ernest Hemingways “Der alte Mann und das Meer”, wenn man einmal Schnee und Meerwasser gleichstellt, Schafe und Fische.

Erstaunlich, wie eine kurze Erzählung sich den Luxus eines lang ausgerollten Spannungsaufbaus leistet. Als Leser wird man so überrascht von dem plötzlichen Wintereinbruch, wie der Protagonist mit seinen Tieren. Und man stapft mit derselben Geduld, ja Sturheit, durch die Seiten, als ginge man durch die Unendlichkeit des Schnees. Eingehüllt in das dichteste Flockentreiben, das einen nichts anderes mehr sehen läßt, nichts anderes auch lesen und denken. Den Erfolg der Suche bringt der Autor in einer kurzen Bemerkung. Um dann gleich wieder zu der neuen Erschwernis überzuleiten, wie die Tiere, die sich nicht mögen, in einer Gruppe zurück zu bringen sind. Erneut diese anthropomorphe Darstellung, die ja immer ankommt.

Hunger und Müdigkeit en masse. Mehrfach ist der freundliche Sucher, dieser gute Hirte, wie er im Buch der Bücher steht, drauf und dran, seiner totalen Erschöpfung nachzugeben. Doch weiß er, daß ein Sich-Hinsetzen den Tod bedeuten würde. Deshalb macht er sich klar: “Es ist des Menschen Aufgabe, einen Ausweg zu finden – vielleicht seine einzige. Nicht nachzugeben. Wider den Stachel zu löcken, so spitz er auch ist. Selbst wider den Stachel des Todes, bis er sich einbohrt und das Herz trifft. Das ist des Menschen Aufgabe.”

In diesem Zitat zeigt sich der Stil des Buches: Alles wieder und wieder in leicht abgewandelter Form repetiert. Eine Schreibe, die für den heutigen Leser gewöhnungsbedürftig ist. Aber wichtiger als das ist: Hier klingt das Heroische an, das aus der Tradition der isländischen Sagas kommt. Das war der Tonfall, der dem isländischen Dichter, der in Dänemark lebte und auf Dänisch schrieb, in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen in Deutschland die Verlagstüren und die Leserherzen öffnete. Allein in dem Münchner Verlag Albert Langen – Georg Müller erschienen 15 Erzählungen, Novellen und Romane von Gunnar Gunnarsson, alle in mehreren Auflagen. Weitere Titel  hatten der Leipziger Insel-Verlag und der Reclam-Verlag auf den Markt geworfen. Der Blut- und Boden-Ideologie und dem Germanenkult des Nationalsozialismus kamen Gunnarssons Bücher gerade recht. Und der auf diesen Grundton eingestimmten Bevölkerung mußten die Werke Gunnarssons als authentische Belege der gerade herrschenden Mode erscheinen.

Der 1889 im rauhen Osten Islands als Farmersohn geborene Dichter war Autodidakt. Früh verlor er seine Mutter. Mit 18 Jahren zog er nach Kopenhagen, um sich dort in der Volkshochschule, dieser neuen und schnell renommierten dänischen Erfindung, mit Bildung zu versehen. Gleichzeitig verlegte er sich bei seinen Schreibbemühungen auf das Dänische, das ihm gegenüber dem Isländischen den weit größeren Sprachraum bot. Zwei Entscheidungen, die Gunnarsson bei all seiner Begeisterung für Religiöses und für Nordisch-Mystisches als einen kühlen Realisten ausweisen. Als 1912 der erste Teil seines großen Romans “Die Leute auf Borg” erschien, fand er spontane Anerkennung. Der Hinterwäldler hatte jetzt einen Namen und konnte ein Buch nach dem anderen veröffentlichen. 1939 verließ er Dänemark und verbrachte den Zweiten Weltkrieg im Osten Islands, das sich neutral hielt. Von 1948 bis zu seinem Tod 1975 lebte er in Reykjavik. Jetzt schrieb er nur noch in seiner Muttersprache, dem Isländischen. Denn er galt als der Heros der isländischen Literatur.

Daß er heute in den Buchhandlungen Reykjaviks kaum noch zu finden ist und daß auch in Deutschland nur das hier rezensierte Büchlein als einziger Titel im Handel ist, macht stutzig und wirft die Frage nach dem Warum auf. Es liegt das sicher nicht nur am überkommenen Stil und an der für seine Werke typischen Verinnerlichung der Dramatik. Er scheint auch von der Ablehnung des deutschen Nationalsozialismus etwas abbekommen zu haben. Dabei war er sicherlich nicht ein Sympathisant, wie beispielsweise Knut Hamsun. Doch wie leicht schleicht sich ein Mißverständnis ein, obwohl einer, für den die Nazis sich begeistert haben, deshalb noch kein Nazi zu sein braucht. Außerdem  muß man wohl zugeben, daß sein 13 Jahre jüngerer Kollege Halldor Laxness (1902-1998) ihm nicht nur die Schau gestohlen hat, sondern auch den bleibenden Erfolg, als er 1955 den Literaturnobelpreis in Empfang nahm, den viele Isländer eher Gunnar Gunnarsson gegönnt hätten. Unübersehbar: In den Buchhandlungen Reykjaviks beherrscht Halldor Laxness heute die Bretter, die für Literaten die Welt bedeuten – die Regalbretter.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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