Der London-Test (2000)

Elf Tage in London, und du kannst deine Ohren wegschmeißen. Für Umweltschutz hatten die Engländer ja noch nie viel übrig, aber beim Umweltschaden Nr. 1, dem Lärm, sind sie Spitze. Und das nicht nur, in der Aufführung von „Phantom der Oper”. Viel Lärm um nichts, um gar nichts. Und weil dem überforderten Mister Webber keine einzige einprägsame Melodie mehr eingefallen ist, nicht einmal das Summ-Vergnügen auf dem Heimweg, wie bei „Hair” oder „Westside Story” oder „My Fair Lady”….

Fast möchte ich sagen: London ist die europäische Hauptstadt der Kids. Deshalb natürlich auch die Kapitale des Lärms und des Drecks. Trotzdem eine Stadt, die man erlebt haben muß. Nicht auf allen Straßen und Parkflächen Kot und Köter, wie bei uns. Nur Plastik und Pappe und Papier. Das läßt immerhin die Schuhe sauber bleiben. So konnte ich leider nicht die Dienste eines Schuhputzers in Anspruch nehmen. Ja, sogar so was Exotisches gibt es hier.

Klar, Thema 1 bei einem Englandbesuch ist immer das Essen. Ich will mich nicht beklagen, wußte ich doch Bescheid. Zum genußreichen Essen hat London seine China Town. In den  englischen Restaurants dagegen findet man kaum was Ordentliches, dafür aber Toiletten von geradezu mediterraner Natürlichkeit. Londoner Lokale werben mit einem neuen Sonderservice: Changing babies. Wunderbar, wo sonst hat man die Gelegenheit, seinen Schreihals loszuwerden und ihn gegen ein ruhigeres Kind einzutauschen. Im Ernst, diese typisch britischen Etablissements sind ein Thema für sich. Ein Pub fällt in der grauen Häuserreihe auf, wie das Tor zum Paradies einem auffallen muß. Holzverkleidet die Wand, braun oder schwedischrot, große Fenster mit alter Verglasung und alles überwuchert von bunten Balkonblumenwülsten und schwerhängenden Blumenkübeln. Aber kaum drin im Paradies, findet man alles etwas zu schmuddelig und viel zu laut. Dabei ist es oft gar nicht einfach hineinzukommen. Im Eingang stehen imposante schwarze Kerle, in schwarz gekleidet, gefährlich aussehend wie Gorillas, die jeden einzelnen abschätzig betrachten und entscheiden, ob sie ihn reinlassen oder heimschicken. Vor der Disco machen sie auch – bitte Arme hochnehmen! – peinlich genaue Leibesvisitationen und durchwühlen jedes Handtäschchen.

Die Söhne Afrikas sind heute in der britischen Hauptstadt die Herren über das Freizeitvergnügen. Dafür kutschiert der korrekt gekleidete Engländer mit der Dienstmütze auf dem Kopf die asiatische Familie im Rolls Royce durch die Stadt. Britannia rules the waves? Wie sich die Zeiten ändern. Auch das vielgerühmte Völkergemisch Englands. Die Kolonialgeschichte hat wie alles Avers und Revers. Übrigens hatte ich sehr schnell heraus: In England erkennt man die deutschen Touristen daran, daß sie Brille tragen. Damit haben sie den Briten einiges voraus, denn deren staatliche Gesundheitsbehörde ist knapp bei Kasse und denkt gar nicht daran, jedem ein, zwei, drei Brillen aufzudrängen.

Beim Blick aus dem Fenster im 7. Stock des Hotels am Piccadilly Circus die bange Frage auf den Lippen: Geht es nicht weiter aufwärts mit Great Britain? Zwar imponierend im Morgenlicht Lord Nelson, der Säulenheilige des Landes, wie er erstaunt das Riesenrad auf dem jenseitigen Ufer der Themse anstarrt. Und auch die ausgefransten Türme des Parlamentsgebäudes machen Eindruck, wie sie mit etlichen Kuppeln und einer Handvoll halbhoher Hochhäuser wetteifern. Aber auf die pleiteplatte Zeltkonstruktion des Dome schaut Nelson vermutlich nur mit dem kaputten Auge. Da bin ich ganz anders.  Soweit ich auch den Blick schweifen lasse, ich sehe nur sechs Baukräne. Da hatte ich ja in Heidelberg beim Blick vom Schloßberg über die Altstadt mehr gezählt.

Doch die Touristen bringen gutes Geld in die Stadt. Viel zuviel. Zum Ausgleich dafür, daß aus dem Wasserhahn überm winzigen Waschbecken des Vier-Sterne-Hotels, Zimmerpreis 360,- DM die Nacht, kaum Wasser kommt, erfrischt man sich mit einigen kräftigen Bürstenstrichen über die Kopfhaut. Froh, daß die Nacht geschafft ist. Für viel zuviel Geld bei dem recht mäßigen Standard der besseren Hotels in der City liegt man hinter einem Lärmvorhang wie in einem Himmelbett. Und etliche Male in der Nacht hebt hinter dem Vorhang ein helles Klingen an, als öffnete sich der Siebente Himmel. Dabei stört bloß, daß ein dämlicher Autofahrer schon wieder den  permanenten Verkehrsstrom unterbricht und mit wildem Hupen von Dutzenden anderer Autos zur Ordnung gerufen wird. Zwischen Piccadilly Circus, Leicester und Trafalgar Square wohnt offenbar kein Mensch mehr. Anders wäre es nicht möglich, daß Nacht für Nacht minutenlange Hupkonzerte um die Häuserblocks wehen, vor Mitternacht und nach Mitternacht, um eins und um zwei und um drei und um vier. Schon wieder geht’s los, diesmal mehr im Stakkato als im Dauerton.

Der Verkehr ist  wie nicht anders zu erwarten megastadtmäßig megaunmäßig. Dabei hat die Londoner Polizei offenbar kein Interesse daran, ihn flüssig zu halten. Läßt sie doch Falschparker nicht gleich abschleppen, um das Hindernis schnellstmöglich zu beseitigen, sondern verpaßt dem Wagen eine schwere gelbe Eisenkralle an einem der Hinterräder und pappt einen Zettel auf die Windschutzscheibe mit einer Warnung vor dem Versuch abzufahren. So ist sichergestellt, daß das Hindernis bleibt, in jedem Fall länger da stehen bleibt als der Fahrer vorhatte, der nun erst einmal die Polizei anrufen und ihr Erscheinen abwarten muß. Das sind so Beobachtungen an der Ampel. Ich mußte ja erst lernen: Kein Fußgänger wartet hier, bis die Ampel grün zeigt. Das ginge überhaupt nicht, weil dabei ein Menschenauflauf entstehen würde, der nicht mehr auf den Bürgersteig paßt.

Für den Fremden sehr angenehm: Die Beschilderung der Straßen ist vorbildlich. Da kommt man mit dem kleinen Reiseführer in der Hand und den gutgemachten Prospekten der Stadtinformation bestens zurecht. Allerdings ist mal die underground angezeigt, mal die tube, und ein anderes Mal die subway. Kein Problem, denkt man. Doch das Schild mit dem Hinweis Hyde Park Corner Subway führte mich nicht wie gewünscht zur U-Bahn, sondern in eine Unterführung. Hier, verstand ich, ist der Subway gemeint und nicht die Subway. Der verfluchte Nachteil, daß das Englische keine unterschiedlichen Artikel kennt. Und dieses sprachliche Krüppelholz soll uns als internationale Wissenschaftssprache dienen.

Man kann natürlich auch bloß zum Einkaufen nach London fliegen. Doch stellt man dann schnell fest: Das Londoner Großkaufhaus Harrods ist ein Gruselkabinett, eine Kreuzung aus Grab des Tut Ench Amun und Taufkapelle im Jugendstil. In das zweite Großkaufhaus der Stadt, das Liberty, braucht man überhaupt nicht reinzugehen, es ist von außen am schönsten. Und das dritte im Bunde, Selfridges, übertrifft sie beide damit, daß es überhaupt nichts bietet, was ablenkt. Wovon? Na, von der innigen Befriedigung, die man empfindet, wenn man soviel sieht, was man nicht brauchen kann. Und was kann man noch brauchen bei dem extrem ungünstigen Wechselkurs? Für uns alles viel zu teuer, weil die Engländer so gescheit waren, sich nicht den Euro-Bären aufbinden zu lassen.

Überall in der stolzen City of London stehen Statuen von Feldmarschällen herum. Die in Stein gemeißelten Lebensdaten der erstaunlich alt gewordenen Herren verraten peinlicherweise, daß sie schon immer in größter Ruhe am Rande des Geschehens gestanden haben, auch damals, als sie ihre Soldaten in den frühen Tod geschickt haben. Horatio Nelson, der Säulenheilige vom Trafalgar Square, hat sein Leben wenigstens in der Schlacht ausgehaucht. Etwas abseits ein Denkmal, das an die Gefallenen des Krieges 1914-19 erinnern soll. Komisch, uns reicht 14/18. Aber das ist wohl typisch britisch: Mehr Krieg fürs Geld.

Selbstverständlich bin ich auch ins Charles-Dickens-Museum gepilgert. Der Vorführdichter Londons, bekanntlich in widerlicher Armut aufgewachsen, dann aber durch seine realistischen Schilderungen dieser Not schnell berühmt und vermögend geworden, er fiel schließlich doch dem Geld zum Opfer. Schon mit 58 Jahren hat ihn der Schlag dahingerafft, weil er immer weiter wie ein Wahnsinniger geschrieben und öffentliche Auftritte absolviert und haufenweise Geld gescheffelt hat, auch als er das längst nicht mehr nötig hatte. Armut prägt halt, sie verfolgt einen durchs ganze Leben und erwischt einen so oder so. Aber immer noch besser, mein lieber Charly, so als so, isn’t it.

Immer lohnend ist ein Besuch im Finanzdistrikt. Da sieht man die korrekt gestylten jungen Herren und Damen, wie sie vor einem miesen Lokal Schlange stehen oder aus der Klappschachtel ihren Fast-Food-Fraß äsen. Im Moment sind hellblaue statt der weißen Oberhemden Gesetz. Die Karrierefrauen tragen dunkle Hosenanzüge oder Jackenkleider. Wichtig ist nur, daß es dem Material nichts ausmacht, wenn man auf dem Rand des Denkmals oder auf dem Treppenabsatz sitzt und schon mal ein Pommes-Frites-Schnitzelchen fallen läßt. Der vielgerühmte Neubau von Lloyd’s zwischen den Traditionskästen ist ein modernistisch gestaltetes Monstrum aus Weißblechdose und Betonsäulen und so vielen Röhren, als sollten die Geldflüsse visualisiert werden. Nun ja, da heute Fabriken im Grünen den Landschaften schonend angepaßt werden, kann man in der Stadt Bürohochhäuser schonungslos fabrikscheußlich drapieren.

Ein Erlebnis für sich ist das Eintauchen in das alte London, im Tower und im London-Museum. Da kann man schon nachdenklich werden. Denn was den Israeliten die Bundeslade war, das ist den Engländern The Domesday Chest, die Kiste, in der das Buch aufbewahrt wurde, das William der Eroberer hatte niederschreiben lassen. Bezeichnenderweise eine Art Grundbuch, in dem für alle Zeiten festgehalten sein sollte, welche Ländereien wem gehörten. Und dann die überraschende Erkenntnis, daß es auch im römischen Londinium einen Mithrastempel gegeben hat. Und dort ist er so gut nur noch Vergangenheit wie in Ladenburg oder sonstwo. Ist es das, was mich so für den Mithras-Kult einnimmt? Daß er out of works ist? Wahrhaftig ein tröstlicher Gedanke angesichts des erstaunlichen Alters mancher Religion, daß auch solche wahnwitzigen Vorstellungen letztlich nur temporär sind.

Im Britischen Museum die Begegnung mit so sonderbaren Wesen wie Sphinx und Satyr und Centaur. Als ob die Alten schon gewußt hätten, was uns heute immer neu entsetzt, nämlich daß der Übergang zwischen Mensch und Tier ein fließender ist. In diesem Supermuseum passen eine Menge Wächter auf, daß niemand was klaut. Denn damit kennt man sich aus. An vielen Ausstellungsstücken aus dem alten Ägypten oder Griechenland oder Kleinasien stehen sogar die Namen der Leute, die sie dort geklaut haben. Die rührenden Versuche, die Parthenon-Figuren erkennbar und verstehbar zu machen, ohne dabei Lord Elgin ausdrücklich als den Räuber zu deklarieren, der er war, sind ja schön und gut. Aber warum ist es im Zeitalter der Computersimulation noch immer nicht möglich, die diversen Stücke aus London, Paris, Athen, Kopenhagen und sogar Würzburg zu einer Gesamtschau des ursprünglichen Zustands zusammenzuführen? Es muß doch auch so was wie Ganovenehrgeiz geben, wenn es Ganovenehre gibt.

Bei der Fahrt zurück zum Flughafen in der U-Bahn der distinguierte Herr in Dunkelblau, der seine Armbanduhr aufzieht. Fast möchte man ihn samt seiner Uhr mitnehmen, als Souvenir. Halt dich zurück! Statt dessen schnell eine minimalistische Literatur-Erhebung angestellt, in der Piccadilly-Linie der Londoner U-Bahn: An einem Samstag-Mittag im September des Jahres 2000, in einem der mittleren Wagen, in dem 30 der vorhandenen 38 Sitzplätze besetzt sind, haben fünf Reisende ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, nur einer eine Zeitung. Wenn das nicht Grund genug ist, demnächst nach England auszuwandern?

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