Der Krimi als Rennwagen

 

Seit Jahren erleben wir die Literatursparte Krimi als eine Flut, ja, fast schon als einen Tsunami, dem kaum zu entfliehen ist. Anlass genug, sich einmal etwas intensiver mit dem Erzählformat Kriminalroman zu beschäftigen. Die so schlichte alte Einteilung in die zwei grundverschiedenen Krimi-Arten „Täter erst am Ende entdeckt“ (der gängige Whodunit-Roman) und „Täter von Anfang an bekannt“ (die seltenere Form) ist durch viele neue Varianten überschwemmt und zur Nebensächlichkeit geworden. Die neuen Unterscheidungen machen an den um Aufklärung bemühten Personen fest, an den Tatorten sowie an den Milieus, an aktuellen Problemen und an der Zeit. Deshalb gibt es jetzt unter dem Oberbegriff Krimi neben dem Thriller, der Schwarzen Serie, der Gangsterballade und dem Komischen Krimi den Kommissar- oder Detektiv-Roman sowie den Roman mit nicht beruflichem Ermittler oder gar einem Ermittler wider Willen. Daneben gibt es den historischen Krimi und den Regionalkrimi, den Technikkrimi, den Sozialkrimi und den Science-Fiction-Krimi … Eine Aufzählung, die man beinahe endlos fortsetzen könnte.

Einen historischen Krimi, der gleichzeitig ein Heidelberger Regionalkrimi ist und in dem der Hofnarr Perkeo als Ermittler wieder Willen agiert, habe ich im Jahre 2017 herausgebracht, und zwar unter dem Titel „Tödliches Einmaleins“. Dabei steht der Krimi bei mir bisher nicht im Vordergrund des Interesses und deshalb auch nicht im Mittelpunkt meines literarischen Schaffens. Ich schreibe vor allem Zeitromane, historische Romane, Biografien und Reportagen (siehe www.netzine.de/library/). Wobei das eine oder andere Buch (z. B. „Hitlers Double“, „Sarkophag“, „Hypogäum“ und „Der gemalte Tod“) durchaus eine Krimihandlung enthält, aber auf die Bezeichnung als Krimi verzichtet hat. Und das nicht versehentlich.

Habe ich mich doch vor Jahren noch gern über die Gattung Krimi lustig gemacht. In meinem Buch „Laufenbergs Läster-Lexikon“ (siehe www.netzine.de/laster-lexikon/) steht unter dem Stichwort Krimi diese Definition: „Der Krimi ist der Rennwagen der Literatur, aufregend aufgemotzt, aber zu nichts nütze, von einem gefahren, der nichts anderes kann als fahren und nur darauf aus ist, an ein Ziel zu kommen, das kein Ziel ist.“

Ich bezeichne den Krimi als einen Rennwagen, weil er wie ein Spezialfahrzeug ist, bei dem eine einzige der vielen Eigenschaften eines Kraftfahrzeugs über alle anderen hinausgehoben wird, nämlich seine Schnelligkeit, und das zu Lasten seiner Nützlichkeit und Brauchbarkeit im Alltag. Dass es bei Rennwagen durchaus noch große Unterschiede gibt zwischen Tourenwagen und Moto-Cross-Boliden oder den Formel-1-Monstern, ändert daran nichts. Die Rennfahrer sind einfach nur Rennfahrer, ihre Fahrzeuge, so aufgemotzt sie daherkommen, sind doch zu nichts nütze, und die Ziellinie ist alles andere als das wirkliche Ziel einer Reise. Ersetzt man den Begriff Rennwagen durch Kriminalroman und den Begriff Rennfahrer durch Krimiautor, ergibt das die Definition des Kriminalromans.

Denn was beim Auto die herausgehobene Eigenschaft Schnelligkeit ist, ist beim Kriminalroman die Eigenschaft Spannung. Ein über alles andere hinaus gehobenes Charakteristikum, ein einzelnes Element der Erzählkunst, das sich verselbständigt hat. Damit hat die Erzählform Roman eine hypertrophe Entwicklung durchgemacht, die ihm in der Literatur eine Variante mit Alleinstellungsmerkmalen eingebracht hat, nämlich den Kriminalroman. Was bisher nicht gerade die Edelmarke der Literatur ist. Dafür ist der Krimi zu einseitig. Denn er basiert vor allem auf Spannung, und er lebt von der Spannung. Das ist es, was die Krimi-Fans erwarten. Und das ist auch der Begriff, den die Buchhändler über das Regal mit der Fülle der Kriminalliteratur schreiben: Spannung.    

Aber allein Spannung zu liefern, ist psychischer Terror. Den auszuhalten ist nicht für jeden etwas. Deshalb wetteifern die Krimiautoren um die Erfindung von immer noch komischeren Ermittlertypen mit immer seltsameren Marotten, die in immer ungewöhnlicherem Ambiente arbeiten, und sich um immer kompliziertere und damit interessantere Verbrechensabläufe und Verbrecherentlarvungen bemühen. Man liefert immer noch bizarrere Morde und unlösbare Rätsel sowie überraschend exakte Waffenkenntnis. Das alles möglichst aufgehängt an einer Spezialerkenntnis aus irgendeiner dem Normalleser nicht vertrauten Wissenschaft. Und schon ist der angestrebte Effekt erzielt: Die Leser sind hingerissen. Dabei widmen die Krimiautoren sich besonders gern Problemen, die in der Presse gerade virulent sind. Diesem Bemühen der Autoren, neben der Spannung dem Publikum etwas Gefälliges oder Wichtiges zu bieten, verdanken wir die Vielzahl der heute in Büchern und Filmen gängigen Krimivarianten. Dass es bei dieser Fülle unterschiedlicher Kriminalgeschichten für den Schluss etwas Gemeinsames gibt, nämlich das Vorherrschen des Sieges der Guten über die Bösen, hat der Kriminalroman mit dem Liebesroman gemeinsam, mit der anderen hypertrophen Romanentwicklung. Was hier die Spannung ist, ist dort der Seelenschmerz. Doch am Ende bevorzugen beide den glücklichen Ausgang, hier die Falllösung, dort das Happy End.

Die Krimiautoren von heute verstehen sich durchweg nicht als Literaten, die zu einem bestimmten Thema etwas zu sagen haben und dafür bei jedem Satz mit dem Ausdruck ringen, der noch nicht abgegriffen ist, aber bestens sitzt. Wenn sich die Krimiautoren auch gern gegen den Begriff Trivialliteratur wehren, gehören die meisten dieser Sparte doch zu dieser Gattung. Denn sie arbeiten als Produzenten von Konsumware, die gerne gekauft und genossen wird. Sie streben in die aktuellen Verkaufslisten und nicht in die Literaturlexika. Das unterscheidet sie von Autoren wie Friedrich Schiller („Der Verbrecher aus verlorener Ehre“), Friedrich Dürrenmatt („Der Richter und sein Henker“), Theodor Fontane („Unterm Birnbaum“), Wilhelm Raabe („Stopfkuchen“) und E.T.A. Hoffmann („Das Fräulein von Scuderi“). Um nur einige Beispiele von berühmten Autoren zu nennen, die Literatur produziert haben, die ihnen manchmal unter der Hand zum Krimi wurde.

Mir fiel auf, dass es auch schon Versuche gegeben hat, den Rennwagen Krimi an die Wand zu fahren, also den Krimi an seine Grenzen oder ad absurdum zu führen. In dem Zusammenhang sind zwei Damen zu nennen:

Zunächst die ungarisch-britische Baroness Emma Orczy (1865-1947). In ihrem Krimi „The Old Man in the Corner“, erschienen 1908, verblüfft sie damit, dass der Detektiv, der mit allen Kräften um Aufdeckung des Verbrechens bemüht zu sein scheint, selbst der Mörder ist. Das ist so kurios, dass es schon fast absurd ist.

Eine Sublimierung der Absurdität glückte der Britin Agatha Christie (1890-1976) mit ihrem 1926 erschienenen Krimi „The Murder of Roger Ackroyd“. In diesem Detektivroman, der auf deutsch unter dem Titel „Alibi“ erschien, ist es ein Arzt, gleichzeitig der Ich-Erzähler der Geschichte, der seine Mitwirkung am Geschehen geschickt unausgesprochen lässt und damit perfekt kaschiert, dass er selbst der Mörder ist.

Das hat mich herausgefordert, diese Reihe der Absurdität fortzusetzen. In „Das Mannheimer TT ermittelt“ (www.netzine.de/library/), erschienen 2015, gibt es eine weitere Steigerung, weil meine Romanfigur, der Schriftsteller Ewald, der das Erlebte in Gedanken ausbaut und als Roman niederschreibt, durch eine Verschränkung der Ebenen über weite Strecken kaum von dem Autor Walter Laufenberg zu unterscheiden ist und schließlich – pardon, aber mehr soll hier nicht verraten werden, um Ihnen nicht den Spaß an diesem Buch zu nehmen.

Hauptsache, der Rennwagen Krimi hat die Wand nicht durchbrochen, gegen die er gerast ist. Damit sich an dieser Wand noch viele Krimischreiber austoben können. Zur Freude ihrer Leserschaft und der Verleger sowie Buchhändler.

 

 

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