Auf Kreuzfahrt rund um Britannia (2014)

 

Die hellen Abbruchkanten der Kreidefelsen von Dover sind ein Grund zum Jubeln. Oder zumindest zum Knipsen. Da sind sich die Touristen einig, die sich an der Reling zusammenquetschen. Aber warum nicht auch den grünen Pelz bejubeln, den die Felsen  Saarbrücken Theater 035tragen, und erst recht das dicke graue Untier auf ihrem Rücken, genannt Dover Castle? Symbol der abweisenden Haltung Englands, der berühmt-berüchtigten splendid isolation. Die ließ den gegenüber liegenden flachen und dunklen Streifen Land zum Feindbild werden, für hundert Jahre. Denn dieser Landstreifen ist die französische Küste. Jetzt torkeln zwischen den alten Frontlinien Segelboote wie Kohlweißlinge, von denen man ebenfalls nie weiß, wohin der Flug geht. Jedenfalls sind die weißen Schaumhäufchen, die so kurzlebigen, keine Blüten, auf denen die Falter zur Ruhe kommen können.

Beim Landausflug nach Canterbury bringt die Führerin im Bus eine überraschende Erklärung für den Linksverkehr: Auf Pferd und Esel ritt man früher in den europäischen Ländern immer auf der linken Seite des Weges, weil man so als Rechtshänder schnell das links am Gürtel hängende Schwert ziehen konnte, wenn einem einer entgegenkam, der feindselig wirkte. Und die meisten Menschen waren ja Rechtshänder. Doch Napoleon war Linkshänder und hat deshalb den Rechtsverkehr eingeführt. Der ist im Laufe der Zeit von den allermeisten Staaten übernommen worden, doch für die Briten und die von ihnen kontrollierten Staaten kam natürlich die Übernahme einer Regelung des verhassten französischen Herrschers Napoleon nicht in Betracht. Dadurch ist heute Ausnahme, was früher, und zwar wohl schon im Römischen Reich, die Regel war, der Linksverkehr.

Saarbrücken Theater 031Canterbury, das ist die Begegnung mit Thomas Beckett, der dort Erzbischof war und im Dom ermordet wurde, sowie mit Geoffrey Chaucer, der dort nie war, aber in seinem Buch „The Canterbury Tales“ die Geschichten von Pilgern erzählt hat, die nach Canterbury zum Grab des hl. Thomas Beckett gekommen waren. Canterbury ist aber auch die berühmte Privatschule St. Augustin hinter dem Dom, in der William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, Schüler war, genau wie der Dramatiker Christopher Marlowe und der Schriftsteller Somerset Maugham. Da wird also zuhause einiges nachzulesen sein.

Nein, ich bin hier kein blinder Passagier. Obwohl für Blinde Vorsorge getroffen wurde: Alle Kabinennummern und die Decknummern auch in Brailleschrift. Als nicht blinder, vielmehr neugieriger Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff wird mir allmählich klar, was Kreuzfahrer von damals und von heute unterscheidet. Vor neunhundert Jahren suchten sie das Paradies, jetzt haben sie das Schlaraffenland gefunden. Die von damals genau wie die von heute entpuppen sich als Opfer einer verrückten Einseitigkeit. War es damals die Ausrichtung auf das Leben nach dem Leben, ist es jetzt die Betonung von Geschmackssinn und Wohlfühlen, als wäre das das Leben.

Auf der Englandkarte links unten Cornwall. Graue Häuser aus schweren Granitblöcken, schiefergedeckt, teilen sich mit den buschüberwachsenen Mäuerchen aus aufgelesenen Steinen um die kleinen Felder die lahme Leere der Landschaft. Nur hin und wieder ein paar Kühe. Und Land’s End mit Heidekraut. Im Übrigen bloß Autos, Autos, Autos und Saarbrücken Theater 046Touristenschwärme. Die Leute pilgern von überallher nach Cornwall zu Ehren der Nationalheiligen dieses Landstrichs, Rosamunde Pilcher. Sie wollen die Kirche sehen, in der sie getauft wurde, und die Bahnstation, von der sie ihre Figuren so gern abfahren lässt, aber auch die Möwen über den Küstenklippen und das eine oder andere große Landhaus, hinter dessen Portal der Butler nicht auf sie wartet. Und der Busfahrer seufzt: Ja, hätten wir die Pilcher nicht, hätten wir in Cornwall überhaupt nichts.

Doch die Hafenstadt Falmouth widerspricht wortreich. In der Blumensprache. So eine bunte Blütenpracht und so viele Palmen in den Vorgärten und sogar als Straßenbäume, neben Bambus und allerlei anderem Gehölz mit mediterranem oder exotischem Migrationshintergrund, dass manches Mittelmeerstädtchen dagegen verblasst. Als wollte Falmouth den Verlust der Bedeutung seines hügeligen Hinterlandes für den Zinn- und Kupferbergbau ausgleichen. Unnötigerweise, sind doch die alten Industrieruinen, die da und dort noch einsam in der Landschaft stehen beinahe so malerisch und fotogen wie die alten Burgen am Rhein.

Cornwall ist nicht nur Pilcherland. Die wundervolle Chance, sich einsam zu fühlen, die diese Landschaft im äußersten Südwesten Englands bietet, haben schon viele Dichter genossen und in Kunst umgesetzt. So Daphne du Maurier, John Betjeman, Winston Graham, Derek Tangye oder Mary Wesley und E. V. Thompson. Aber das ist ein Leseprogramm, das mehr Zeit erfordert, als diese Zwei-Wochen-Reise mir bietet. Und in dem Schrank, der als die Bibliothek des Schiffes bezeichnet wird, ist ohnehin fast nur Ramschliteratur zu finden, euphorisch Urlaubslektüre genannt.

Cobh ist unser Eingang nach Irland, nach Cork und zum Schloss und Park Blarney. Aber Saarbrücken Theater 058auch der Beginn dieses Straßennetzes mit Linksverkehr, das sich in engen Windungen, meist eingeklemmt zwischen hohen Buschwänden, durchs Land zieht. Wer dabei nach Newport kommt oder nach Baltimore und meint, er sei in Amerika gelandet, der muss umdenken. Viel zu viele amerikanische Städte haben ihre Namen von irischen Auswanderern bekommen, die dem Hunger und der Arbeitslosigkeit entflohen sind und nichts als die vertrauten Ortsnamen mit in die neue Heimat gebracht haben.

Vorhin neben der Straße einen verlorenen Friedhof entdeckt. Weitab von jeder Siedlung. Schmucklos bis auf ein paar Blumen, die sich dorthin verirrt haben. Kurz wie das Leben das kurzgehaltene Gras, aus dem vereinzelt graue Steine herausgewachsen scheinen. Eine knochentrockene Nichtwelt, obwohl der Boden zwischen den krumm herumstehenden Steinen literweise Tränen geschluckt hat. Und ich verstehe: Eingetrocknete Tränen sind die dezenteste Art, das Carpe-Diem hinauszuschreien in die Welt. Diese Lebensstimulanz, sie bietet sich so schlicht an, wie das Leben hier wohl immer gewesen ist.

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Friedhof statt Sehenswürdigkeit à la Baedeker. Was sehenswert ist, muss man sich selbst klarmachen und vor das innere Auge bringen. So ein strahlend weißer Kreuzfahrtgigant mit seinen Kurzausflügen an Land ist ja nicht der Shuttle zu den Attraktionen der großen weiten Welt. Wer das glaubt, wird enttäuscht. Hat er doch, als er an Bord ging, sich eher einem Kindergarten für Erwachsene anvertraut, mit Anleitung zum richtigen Händewaschen – mindestens zwanzig Sekunden lang –, mit Übervollverpflegung und perfektem Service in philippinischer oder malaysischer oder oder oder Muttersprache. Da kommt die Welt auf ihn zu, ohne dass er aus seinen bequemen Latschen zu steigen braucht.

Doch in Dublin mal zwei Stunden zur freien Verfügung. Also Zeit genug, nach Molly Malone zu suchen. Und sie nicht zu finden. Weil die liebliche Statue der weltberühmten Muschelverkäuferin abmontiert wurde, um sie einer dringend notwendigen Restaurierung zu unterziehen. Zu beneiden, die Schöne. Nach dieser vergeblichen Suche – immerhin gibt Saarbrücken Theater 068es andere zu sehen, die Statue spielen –, bleibt nicht mehr Zeit genug für einen Besuch im Literaturmuseum der Stadt, aber für einen Café-Besuch und die Toilette. Der Code für die Öffnung der Toilettentür steht auf dem Kassenbon, modern times, also zurück zum Tisch, das Zettelchen unterm Tisch aufklauben und erneuter, etwas hektischerer Abstieg in die gekachelte Unterwelt.

Bei dem – generell viel zu teuren  – Ausflugsprogramm, das die Reederei für alle Anlandungen anbietet, gibt es in Liverpool die Auswahl zwischen der Beatles-Hochburg Saarbrücken Theater 086und dem Lake-Distrikt und dem Römerstädtchen Chester, also Moderne oder Natur oder Geschichte. Habe mich für die historische Stadt Chester entschieden. Warum soll man nicht auf Nordlandfahrt römische Spuren verfolgen? Eine zweitausendjährige Dame im engen Korsett der Stadtmauer am Fluss Dee. Im Kleinen eine Kopie von Köln, auch mit dem Haupt-Straßenkreuz und mit einer Kathedrale, aber mit Häusern, die aus dem 16. und 17. Saarbrücken Theater 076Jahrhundert stammen. Malerische Bauten in wunderlichem Fachwerk und mit Arkaden im ersten Obergeschoss. Da bleibt keine Kamera kalt.

Der vielbesungene See namens Loch Lomond ist nicht bloß der Lieblingssee von Dichtern und Malern. Hier versenkt man sich nicht nur in Beschaulichkeit. Zu komisch, wenn man bei der Fahrt durch die idyllische Wald- und Seen-Landschaft am Clyde davon erfährt, dass dort bis 1990 ein Nest der amerikanischen Polaris-Raketen war, die ihre Atomsprengköpfe bis nach Russland hinein tragen konnten. Auch amerikanische U-Boote waren dort versteckt. Und Loch Lomond war das ideale Testgebiet für Torpedos. Heute sind bei dem nahen Ort Lochgair die vier Atom-U-Boote der britischen Kriegsmarine stationiert, von denen immer eines auf See ist, während die anderen drei im Clyde unter Wasser bleiben. Ihre Raketen sind vorsichtshalber separat im einige Kilometer entfernten Coulport gelagert. Um dieses wichtige und für die Royal Navy alternativlose Militärrevier zittert die Regierung in London, wenn von den Bestrebungen der Schotten die Rede ist, sich vom Vereinigten Königreich zu trennen.

Saarbrücken Theater 095Die küstennahen Schifffahrtsrouten werden neuerdings immer enger, weil in Küstennähe immer mehr Windparks aus dem Wasser sprießen wie Pilze aus dem Waldboden. Von weitem wie auch vom Flugzeug aus bietet so ein in Reih und Glied aufgebauter Energiesammler auf See einen Anblick wie ein großer Gefallenenfriedhof. Bei dem hat scheinbar Unvermeidliches ja ebenfalls was Stattliches.

Oban, du bist ein hübsches Hafenstädtchen mit imposanten Kirchen und Hotels, was dir der Jahrhunderte lange lebhafte Gegenverkehr eingebracht hat. Erst waren die irischen Saarbrücken Theater 108Mönche gekommen, die sich im Jahre 563 übers Meer gewagt und auf dem Inselchen Iona angesiedelt hatten. Mit einem beherzten Sprung über die größere Insel Mull kamen sie zu dir ans Festlandsufer, um das wilde Bergvolk der Schotten zum Christentum zu bekehren. Und längst kommen die Touristen und frommen Pilger im Gegenzug, um sich nach Mull und von dort nach Iona übersetzen zu lassen, zum Begräbnisplatz der schottischen Könige in der Kathedrale von Iona, die so was wie die Westminsterkathedrale der Schotten ist.

Bei allem Verständnis für das Streben nach Glück, das uns alle verbindet – und gegeneinander aufbringt -, die in Parfum- und Deo-Atmosphären dahinschwebenden weiblichen Übervolumina, oft mit einem im tiefen Ausschnitt baumelnden Kreuz, die Trägerin ist ja auf Kreuzfahrt, und die aus dem Gürtel hängenden Kerle mit den kritisch dreinblickenden BILD-Leser-Gesichtern, die mich auf dem Schiff umgeben, sie lassen mich täglich neue Welten entdecken, deren Entdecker ich nie sein wollte. Immerhin gibt es daneben nicht viel mehr zu entdecken. Sind doch die teuren und viel zu kurzen Landausflüge vor allem Bustransport und angestrengtes Lautsprecherlauschen. Wer darauf verzichtet, nimmt an den diversen Veranstaltungen auf dem Schiff teil, die sämtlich als Highlights angepriesen werden. Oder er bemüht sich um Sonnenbräune oder isst und trinkt, isst und trinkt, isst und trinkt. Alles inklusive.

Invergordon am Nebelmorgen. Das Wellengekräusel liegt tief unter mir, das Schiff ist bewegungslos, wie feststeckend im dichten Nebelgrau. Am nahen Ufer gerade nur ein paar Häuschen auszumachen, die zu kleinen braunen und grünen Flächen gehören und zu den Buschschlangen, die sie trennen. Bin ich auf dem Bodensee aufgewacht? Der enge Bildausschnitt des Fensters, das sich nicht öffnen lässt, gaukelt mir eine vertraute Welt Saarbrücken Theater 115vor. Doch dann draußen als erstes der Blick auf die riesige Ölplattform, deren Aufbauten sich im Nebel verlieren. So habe ich mich wieder gefunden. Immer noch in Schottland, bereit für einen Spaziergang die Hauptstraße hinauf und hinunter.

Zweihundert Jahre lange war dieses Städtchen Invergordon an dem weiten Naturhafen das Versteck der britischen Kriegsflotte, erfahre ich. Vorbei. Die beiden größten Ereignisse dieses Fleckens waren: Im Dezember 1915 ist im Hafen das Schiff Natal explodiert, auf dem gerade eine große Party stattfand. Vierhundert Menschen fanden dabei den Tod. Das Wieso und Warum ist bis heute ungeklärt. Und 1993 verließ das letzte Schiff der stolzen Flotte den Hafen. Jetzt ist auf Schritt und Tritt zu sehen und zu spüren, dass seitdem nur noch Ruhe herrscht in Invergordon, auch mal Nebel, oft Regen, manchmal angeblich aber auch Sonnenschein. Oder täuscht die Ruhe? Habe ich doch an etlichen Fenstern die weiß-blaue Aufforderung gesehen, bei der Abstimmung über die Saarbrücken Theater 119Unabhängigkeit das YES anzukreuzen. Und auf der Hauptstraße an mehreren geparkten Autos schon das neue, antizipierende Nummernschild mit der Landesbezeichnung SCO unter der blauen EU-Fahne mit den zwölf Sternen, an einem anderen Wagen jedoch auch ein neues Kennzeichen mit GB.

Habe mit etlichen Schotten über die Abstimmung zur Unabhängigkeit von Großbritannien gesprochen, die am 18. September Saarbrücken Theater 089dieses Jahres ansteht. Nie im Leben habe man eine wichtigere und derart weittragende Entscheidung treffen müssen, heißt es. Und immer wieder deshalb dieses: Ich weiß noch nicht, ob ich Ja oder Nein sage. Ich fand, behielt das aber für mich, inzwischen sollten die Schotten reif sein für die Selbständigkeit, so dass man nicht befürchten muss, dass sie sich anschließend untereinander zerfleischen. Wie man es wohl im Falle Kurdistan annehmen muss, obwohl man auch den Kurden gönnt, dass sie endlich ihren eigenen Staat bekommen.

Bei unserer Abfahrt marschiert am Pier eine schottische Musikgruppe mit Dudelsack- und Trommel-Musik auf. Eine Schülerrinnenband mit ihrem Lehrer bietet uns den passenden Saarbrücken Theater 142Abschied von Schottland. Je weiter wir Abstand bekommen vom Festland, umso deutlicher zeigt sich mir: Die Invergordener leben eingeklemmt zwischen einer Galerie von fast zwei Dutzend grauen Riesenölcontainern hinter ihren Häuschen und ein paar großen Ölförderanlagen vor ihnen, direkt an der Küste und im Hafen. Und die Highlands sind nur noch in der Ferne zu sehen. So leben diese Menschen im Abseits mit der großen Hoffnung Schottlands.

Saarbrücken Theater 138Wenn die Kreuzfahrer, mit denen ich ins Gespräch gekommen bin, von ihren früheren Reisen schwärmten, dann ging es immer um dieses Schiff und jenes Schiff, um deren Unterschiede und Vorzüge, nicht aber um die Länder, zu denen sie gefahren waren. Ganz klar ist: Diese Art der Schifffahrt dient nicht dem Ankommen irgendwo, sondern nur dem Verwöhntwerden unterwegs. So ist der berühmte Spruch des Konfuzius nirgends passender als bei der modisch gewordenen Kreuzfahrerei: Der Weg ist das Ziel.

 

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