Anslavs Eglitis: Homo Novus

Die Frage aller Fragen

(Anslavs Eglitis: Homo Novus, Ein Künstlerroman aus dem Riga der dreißiger Jahre, aus dem Lettischen übersetzt und mit Anhang sowie Nachwort versehen von Berthold Forssman, Weidle-Verlag, Bonn 2006, Paperback 526 Seiten, 23 Euro)

Das kleine Land der Balten, Kuren, Liven an der Ostsee, viele Jahrhunderte lang unter der Fuchtel des Deutschen Ordens, dann nacheinander unter polnischer, schwedischer, russischer Herrschaft, hatte seine große Zeit um Neunzehnhundert, als Riga zum wichtigsten Hafen Russlands aufstieg. Das fand seinen Niederschlag in vielen Firmengründungen und Jugendstilbauten. Im ersten Weltkrieg stand das Land auch einmal teilweise unter deutscher Herrschaft. 1918 wurde Lettland erstmalig ein selbständiger demokratischer Staat, der sich aber auf Dauer nicht gegen den russischen Einfluss und eine weitergehende Russifizierung wehren konnte. Diesen Hintergrund muss man sich klar machen, wenn man verstehen will, wieso der Autor sein Riga der dreißiger Jahre immer wieder mit Paris gleichsetzt. Die einzige Großstadt in Lettland feierte sich gerne als das Paris des Nordens. Eine trotzige Vorstellung als Überlebenshilfe.

Eglitis wurde 1906 in Riga geboren, wo er auch ein Studium an der Kunstakademie absolvierte. Daneben besuchte er häufig seine bäuerlichen Verwandten im ostlettischen Cesvaine. Dieser Spagat kann als die Ausgangsposition der umfangreichen Erzählung verstanden werden, die viele autobiografische Züge trägt und, zumindest was die pastos geschilderten Rigaer Maler und ihre Lieblingslokale betrifft, eine Art Schlüsselroman ist.

Ein ehrgeiziger junger Mann vom Land namens Upenajs, Absolvent einer Kunstakademie, trifft aus der Provinz kommend gleichzeitig mit dem Dandy und prospektiven Millionenerben Eižens im Rigaer Bahnhof ein. Der eine, um sich in der Hauptstadt als Maler durchzubeißen, der andere kehrt gerade von einem seiner Paris-Besuche zurück. Der windige Tausendsassa Kurcums schafft es, sie beide schon am ersten Abend mit den wichtigsten Malern Rigas in einer turbulenten Atelierkatastrophe zusammenzubringen. Und schon ist der Neuankömmling, noch als Homo Novus bespöttelt, ein stadtbekannter Mann. Zunächst nur durch eine Ungeschicklichkeit, dann durch seine Naivität, die ihn auf eine raffinierte Posse hereinfallen lässt, schließlich aber durch seine überlegene Leistung als Maler.

Wie es dazu kommt, dass Upenajs und Eižens am Ende des Romans sich wieder im Rigaer Bahnhof treffen, aber mit ausgewechseltem Fahrtziel, das soll hier nicht verraten werden. Nur soviel: Das Testament eines Superreichen, das an Sonderlichkeit kaum zu überbieten ist, und die Verzweiflung des Alleswissers Kurcums, aber auch die Überlegenheit einer jungen Bildhauerin spielen dabei zusammen.

Ein bisschen also ein Entwicklungsroman, aber einer, der sich betont von der Konzeption des 19. Jahrhunderts absetzt. Jetzt geht es nicht mehr um den Zusammenprall von Adel und Bürgertum, jetzt geht es um den Gegensatz von Stadtmensch und Landbewohner. Ein bisschen auch ist der junge Mann vom Land Goethes Faust, der sich in die Hände des Mephistos Kurcums begibt, aber ohne seine Seele dafür zu verkaufen. Der Gelackmeierte ist hinterher Mephisto. Brillante Situationskomik, so bei der Schilderung des Schulalltags mit seinen unüberwindlichen Schwierigkeiten für einen neuen Lehrer, dazu immer wieder pfiffige Dialoge. Perfekt die Zeichnung der Hauptpersonen durch ihre Ausdrucksweise. Und das alles unterhaltsam gebracht. Aber nur unterhaltsam? Durchaus nicht.

Unübersehbar ist die breit ausgemalte Gefühlswelt der Akteure. Darin steht Eglitis in der Nachfolge von Dostojewski. Aber er illustriert nicht nur. Auch hebt er das Gefühlige nicht auf, sondern er kontrastiert es in dem überlegenen und umfangreich gebildeten Kurcums. Das heißt: Der Teufel ist der Denker. Und am Ende scheitert der Denker. Eine problematische Quintessenz. Heißt es doch schon bei Goethe: „Nichts Abgeschmackteres find ich auf der Welt als einen Teufel, der verzweifelt.“ Unübersehbar, dass Eglitis mit dieser Konstruktion aus dem Rahmen des so schön bunt gemalten Bildes vom Paris des Nordens fällt – fallen musste, um endlich zu dem zu kommen, was er zu sagen hat. Er sagt es im letzten Kapitel des Buches, und dazu benutzt er einen erst spät eingeführten Künstler mit dem Namen Orpheus Faustus, der den großen Traum vom Gesamtkunstwerk verwirklichen will. Den lässt er in einem programmatischen Monolog sagen: „Der Mensch isst, trinkt, schläft und erfüllt einige weitere physiologische Funktionen, und das genügt ihm. Wenn wir noch den Trieb der Arterhaltung, die selbst bei Tieren auftretende Herrschsucht, die Neigung, sich über andere zu erheben, und die fast affenartige Neugierde hinzunehmen, dann können wir alle Verrichtungen des Menschen unter wenigen Grundbegriffen zusammenfassen, auch wenn sie als noch so zahlreich gelten.“

Dieser Mann, eine Verlegenheitsfigur, völlig unmotiviert als Mitbewerber im großen Malerwettbewerb eingesetzt, ist offenbar das Sprachrohr des Autors. Der dann richtig zur Sache kommt, als Orpheus Faustus den Teufel Kurcums auf menschliches Normalmaß zurechtstutzt: „Wenn du deinen ersten Trieb, den Durst, befriedigt hast, dann eilst du, dasselbe mit dem zweiten zu tun, der Neugierde. Damit wiederum bedienst du deinen dritten Trieb: deine Selbsterhöhung.“ Da wird deutlich: Eglitis ist nicht einfach nur der phantassievolle Schilderer einer Gesellschaft, auch nicht ein Moralprediger, er ist ein Aufklärer, der Frage aller Fragen verpflichtet: Warum tut der Mensch, was er tut?

Dabei war der Autor eigentlich ein ausgebildeter Maler, der heute noch in Lettland und in den USA mit einem kleinen Werk vertreten ist. Diese Berufserfahrung findet im Buch ihren Niederschlag in den faszinierenden Schilderungen der Boheme-Jünger, aber auch in der überzeugenden Kenntnis der Materialien und Techniken. Und wie die totale Sinnlosigkeit des Boheme-Gehabes vorgeführt wird, das ist offensichtlich das persönliche Fazit des Autors, der es sich versagt hat, ein typisches Malerleben zu führen und stattdessen zum Romancier wurde.

Homo Novus erschien ursprünglich, auch das wieder eine Parallele zu Frankreich, als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift „Tevija“, und zwar erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Als die heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen und deutschen Truppen auf immer mehr lettische Gebiete übergriffen, wurde das Erscheinen der Zeitschrift in den betroffenen Regionen eingestellt, nur im westlettischen Kurland konnten die Leser Anfang Oktober 1944 in der letzten Ausgabe noch das Ende des Romans lesen. Für die meisten Leser blieb dieser Fortsetzungsroman also ein Torso, was für den Autor gewirkt haben muss, als hätte man ihm kurz vor dem Höhepunkt seiner Erzählung einen Knebel in den Mund gesteckt.

Anšlavs Eglitis ging mit seiner Frau Veronika ins Exil. Erstes Ziel war Deutschland. Die Einreise in die USA wurde ihm verweigert, weil er als Jugendlicher an Tuberkulose erkrankt war. Erst 1952 konnte das Paar nach Los Angeles ausreisen. Doch der Roman war schon vor seinem Autor in den USA angekommen. 1946 war „Homo Novus“ erstmalig in Buchform erschienen, und zwar in New York, eine Neuauflage gab es 1960.

Erst 1992, nachdem Lettland seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte,  erschien eine Buchausgabe in Riga. Doch schon im Jahr darauf starb der Autor in der Nähe von Los Angeles. Der Mann, der das ganze 20. Jahrhundert erlebt hat und dem alles menschliche Treiben fragwürdig wurde, er ist eine Entdeckung für unser neues Jahrhundert, dem zuzuhören sich lohnt, weil sein Roman bei aller Unterhaltsamkeit und aller gefälligen Spannung so konsequent illusionslos ist und alle vorgeschobenen Motivationen, Entschuldigungen, Kaschierungen und Veredelungen unseres Handelns ad absurdum führt.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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