André Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

Gekonnt ausgefranst

(André Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein, Erzählung, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2008, gebunden 138 Seiten, € 16.90)

Ein schmales Buch mit einem langen Titel, der bei aller Krudität nicht die Unverhältnismäßigkeit überspielen kann. Spielen, das ist das Stichwort. Denn das ist die Spezialität dieses Autors, die er schon in Büchern wie „Die Ernte der Schlaflosigkeit in Wien“ oder „Auf und Davon“ oder dem Roman „Schattentaucher“ vorgeführt hat. Bei diesen Büchern habe ich genau wie bei der jetzt erschienenen Kindheitsgeschichte sehr viel mehr am Anfang zu unterstreichen gehabt als hinterher. Mit dieser Machart unterscheidet sich der Autor nicht von anderen seines Fachs, im Gegenteil, er zeigt damit, dass er ein Profischreiber ist, der weiß, worauf es ankommt.

Womit André Heller sich über die meisten anderen Profischreiber hinaushebt, das ist der Einfallsreichtum in der Formulierung. Dazu verhilft ihm seine ironisch distanzierte Weltsicht und das angeborene Talent zum Wiener Schmäh. Da werden die jüdischen Verwandten genauso wortstark karikiert wie die tumben Nachbarn und kleinen Politikenthusiasten, aber auch die Jesuiten, in deren Internat der Junge gelitten hat. Und erst recht wird sein Vater, der Familientyrann, zu einer Kuriosität. Erst als er plötzlich stirbt, lebt der Junge auf, genau wie seine Mutter. Dass der Junge allerdings ebenso wenig mit seiner neu gewonnenen Freiheit anzufangen weiß wie die plötzlich Witwe gewordene noch recht attraktive Frau, lässt das Buch trotz der sehr anschaulichen und packenden Schilderung der Zerstörung der Synagoge und der ersten Mini-Kostprobe einer Liebe ausgefranst wirken.

Damit das nicht als Unwerturteil über das Buch wirkt, muss man sich klarmachen: Hier geht es um die Schilderung einer Kindheit, also um die Darstellung dieses bloßen Entwurfs zu einem Menschen, wie es einer der zur Beerdigung angereisten Onkels, lauter komische Vögel, sagt. Die Bemühung, daraus einen wirklichen Menschen zu machen, gehörte nicht mehr in dieses Buch. Es erfreut mit ganz anderen Dingen, nämlich mit apodiktischen Formulierungen, die so altklug wie neckisch sind. Das hat der Autor mit dem Kunstgriff möglich gemacht, dass er in der Rückschau mal in der dritten Person Einzahl aus der Erwachsenensicht schildert, mal in der ersten Person das Kind denken und handeln und sprechen lässt. Eine geschickt aufgebaute Alternativwelt, die über die Banalität einer nur kindlichen Schau hinweghilft und ebenso über die ewige Besserwisserei des Erwachsenen. Wie diese beiden Sehweisen sich vermischen und ergänzen, das macht den besonderen Reiz dieses Buches aus.

Hierfür ein paar Beispiele: „Daß die Päpste nicht aus Fleisch, Knochen und Blut waren, sondern aus Stein, wusste ich, denn Jesus hatte seinen Stellvertreter mit den Worten ernannt: ‚Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen.’“ Oder: „Offenbar gab es für jeden von uns einen heiligen Vater und einen unheiligen. Den unheiligen nannte man auch den leiblichen.“ Oder: „Es zählt zu den nachhaltigsten Traurigkeiten meiner Kindheit, dass Mutter mich nicht unbefleckt empfangen hat. Was besaß die Mutter Gottes, dachte ich damals, das meiner Mutter fehlte?“ Oder: „Onkel Monte erzählte vom Wesen des Tangos, und dass sich eine Uruguayerin von Welt niemals, wie es jetzt bei uns die Mode sei, die Achselhaare rasieren würde, denn im weiblichen Achselhaar seien jene Gerüche beheimatet, die am wirksamsten die Wollust befeuerten.“

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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