An Frankreichs Kanalküste (2011)

Glücklich heimgekehrt, frage ich mich: In welchem Land gibt es so viele heilige Orte wie in Frankreich? Immer wieder kommt man zu einem Saint- oder Sainte-Soundso. Entweder war das Volk früher so fromm, dass es aus seinen Reihen haufenweise Heilige hervorbrachte, oder es war so rabiat, dass die wenigen Anständigen gleich zur Ehre der Altäre befördert wurden. Hoffentlich nicht als Menschenopfer. Dagegen spricht, dass die Franzosen das Opfern von Menschen andersherum sehen: Heilig ist, wer viele Menschen geopfert hat, beispielsweise der Sachsenschlächter Karl der Große, hier als der heilige Charlemagne verehrt.


Der Autor auf dem Korsarenschiff Étoile du Roy

Der Autor auf dem Korsarenschiff Étoile du Roy (Foto: Dr. Martin Laun, Mannheim)

Neben weiten Feldern und putzigen Dörfchen überrascht die Normandie mit einem Kommen und Gehen des Meeres, wie es kaum irgendwo sonst zu bewundern ist. Ein Tidenhub von bis zu dreizehn Metern. Und noch etwas hat die Nordküste Frankreichs zu bieten, mit der keine andere in Europa mithalten kann, nämlich Eroberungen im Kingsize-Format. Mal waren es die Wikinger, die als die gefürchteten Normannen das Land überschwemmten, dann war es im Jahre 1066 Wilhelm der Eroberer, der von dieser Küste aus mit einem gewaltigen Heer über England herfiel, und mit einer noch gigantischeren Streitmacht überzogen die Alliierten 1944 die Küste. Jetzt weiß ich, was man unter Gezeiten versteht.

Aufgang zum Kloster des Mont Saint Michel

Aufgang zum Kloster des Mont Saint Michel

Das Laufrad

Das Laufrad

Der Mont Saint-Michel steht einsam – zeitweise im Wasser, zeitweise im Matsch – im Grenzgebiet von Normandie und Bretagne. Für die Millionen Touristen, die den Berg erklimmen, spielt das keine Rolle. Der Weg hinauf ist steiler als der Leidensweg Christi in Jerusalem, bringt dafür aber ein noch viel größeres Angebot an Souvenir-Klimbim und Lokalen und Kuriositäten-Kabinetten als dort. Die elektronische Führung durch die vielen Hallen und Flure der gewaltigen Klosteranlage, mit denen die Benediktiner den Berg gekrönt haben, für manchen etwas zu fülligen Besucher eine Dornenkrone, bemüht sich darum, die gigantische Leere mit Vorstellung zu füllen. Und das in vielen Sprachen. Was den Kameras aber nicht hilft. Die dort noch lebenden wenigen Mönche kommen einem nicht vor die Linse. Nur hin und wieder eine Nonne. Was Gott vereint hat, soll der Mensch nicht trennen, fällt einem dabei ein. Dann ist man froh, auf das große Laufrad zu treffen, mit dem der Versorgungsschlitten auf der außen vor die Klosterwand gebauten langen Rutsche hoch gezogen wurde. Von dem anonymen Führer am Ohr kein Hinweis darauf, wie dieses Laufrad bewegt wurde, nur dass dort die Zellen von Gefangenen waren. Vor allem unter dem sehr frommen König Ludwig XI. waren sie immer gut gefüllt. Da erinnert sich manch einer an den niedlichen Hamster, den er als Kind hatte und bewunderte, wenn er unermüdlich im Laufrädchen lief.

Saint-Malo an der bretonischen Küste, gegenüber vom britischen Portsmouth, hat sich im Mittelalter mit einem bombastischen Mauerring gegen die Überfälle der Normannen zu schützten bemüht, was eine Zeit lang tatsächlich gelungen ist. Aber dann kamen die Normannen in hellen Scharen, überschwemmten die Küste und wurden dort einheimisch. Die Mauern von Saint-Malo blieben stehen. Als die gut befestigte Stadt im Abseits Bischofssitz wurde, ging es rapide aufwärts. Abtrünnige, Gauner, Außenseiter und Verbannte ließen die Bevölkerung rasant anwachsen. Mal gehörte die Stadt dem französischen König, mal dem englischen. Grenzlandschicksal.

Ein feste Burg ...

Ein feste Burg ...

So kam es zu einem Selbstbewusstsein, das sich in dem Spruch äußerte: „Weder Bretone noch Franzose, aber Malouiner bin ich.“ 1590 machten die Malouiner ihre Stadt sogar zur Republik. So früh schon waren sie in der Moderne angekommen. Und sie blieben auch vier Jahre lang Republikaner.

Saint-Malo, die silberne Stadt

Saint-Malo, die silberne Stadt

Im Jahre 1944 kamen dann die Amerikaner, um die deutsche Besatzung zu vertreiben. Und weil der deutsche Kommandant nicht bereit war, sich zu ergeben, wurde die Stadt zu 85 Prozent zerstört. Nach dem Krieg haben die Malouiner ihre Stadt nach den alten Plänen und Fotos wieder aufgebaut, teils mit den alten mühsam nummerierten und geordneten Steinen, teils mit neuen, silberglänzenden Blöcken aus dem ewigen Granit, der von Jersey importiert wurde. Auch die bombastische Stadtmauer wurde repariert und ist wieder voll begehbar, wie es in der Fremdenverkehrswerbung heißt. Und jetzt, an einem verregneten Junisonntag bemühten sich zig Musikgruppen, über die ganze Stadt verteilt, mit einem Höllenlärm die Mauern zum Einsturz zu bringen. Vergebens. Saint-Malo ist halt kein Jericho.

Der berühmteste Sohn der Stadt Saint-Malo ist François-René de Chateaubriand, der seinem Land als Schriftsteller, Politiker und Diplomat gedient hat.

Chateaubriand ist mehr als ein Braten

Chateaubriand ist mehr als ein Braten

Sein Grab ist auf dem vorgelagerten winzigen Eiland Grand Bé zu besichtigen, das allerdings nur bei Ebbe erreichbar ist. Als ich in Saint-Malo war, kam gerade die Flut. Möge er mir also verzeihen, dass ich ihm nicht die Ehre eines Besuchs angetan habe. Dafür habe ich im Hotel Chateaubriand an einem deutsch-französischen Festessen teilgenommen. Weit über hundert würdige Damen und Herren auf engster Tuchfühlung – so eng ist die französisch-deutsche Freundschaft, dass man ganz schön ans Schwitzen kommt.

Viel wichtiger als Chateaubriand sind den Malouinern andere große Söhne, nämlich die tollkühnen Anführer der Kaperfahrten, die von der Zeit um 1700 bis nach 1800 die Weltmeere unsicher machten – und die Stadt stinkreich. René Duguay-Trouin und Robert Surcouf sind die größten Berühmtheiten unter den Korsaren. Und weil dem so ist, bezeichnet Saint-Malo sich als Stadt der Korsaren. Dabei wird Wert gelegt auf die Unterscheidung vom Piraten oder Seeräuber, der als ein Gesetzloser auch in Friedenszeiten auf Kaperfahrt ging. Der Korsar dagegen überfiel fremde Schiffe nur in Kriegszeiten, und das mit einem Kaperbrief des Königs in der Hand. Für die Opfer machte das allerdings keinen Unterschied.

Kaperfahrten machten die Stadt reich

Kaperfahrten machten die Stadt reich

Die Steine, die auf den Friedhöfen der Bretagne die Toten decken, sind viel größer und schwerer und auch edler als die Steine, aus denen ihre Behausungen gebaut waren. Einige Jahrzehnte lang hatten es die unbehauenen Felssteine getan, doch für die Ewigkeit muss es eine mehr als mannsgroße und zweimannbreite Platte aus glattgeschliffenem und poliertem Stein sein, möglichst etwas Besonderes wie Rosengranit oder gar Marmor. Oft ein aufgelegtes Kreuz, da und dort ein Blumenkästchen, aber nur knappe Beschriftungen auf dem Stein oder sogar nur an seinem Rand. Minimalismus in Voraussicht der späteren Wiederverwertung des Steins. Zu deutlich, dass man keine Vorstellung davon hat, wie, wo und was nach dem Tod sein wird. Längst vergessen die Fürsorge früherer Jahrhunderte, die den Toten Waffen und Haushaltsgeräte und Schmuck, auch Geld und Reiseproviant mitgegeben haben. Der Tod, er hat die Lebenden längst sprachlos gemacht. Nur wer genauer hinschaut, bemerkt die feine helle Streu auf den Wegen zwischen den Gräbern: Von den Gezeiten zermahlene Muschelschalen, aus dem Meer geerntet, mit dem großen Sieb, das hinter einem Traktor über den Strand gezogen wird, immer und immer wieder durchgesiebtes Leben. Ein Memento Mori, über das wir als Friedhofsbesucher achtlos hinweggehen.

Unter jedem Dach ein Ach?

Unter jedem Dach ein Ach?

Die mit kleinen Schieferplättchen gedeckten und unverputzten bretonischen Häuser sind aus erdbraunen Felssteinen gebaut. Im Alter werden sie grau. Darin gleichen sie ihren Bewohnern. An jedem Hausende die geschlossene, glatte Wand, von einem Kamin überhöht. Fast könnte man meinen, in Irland zu sein. Manchmal auch in Südengland. Ist ja auch egal, wo man ist. Sind die Häuser hier wie dort und überall doch nur Emballage zu vorübergehender Benutzung.

Innerhalb Europas zu reisen, das heißt von einer Memorabilie zur anderen zu kommen und überall daran erinnert zu werden, dass es jahrhundertelang Kämpfe gab, mit denen die Grenzen der Länder hierhin und dorthin verschoben wurden.

Macht Bunker zu Spielplätzen!

Macht Bunker zu Spielplätzen!

Immer wieder mit millionenfachem Jubel über den Sieg und millionenfacher Trauer um die Toten. Innereuropäische Gemeinschaftsgefühle, die sich wechselseitig aufhoben. Da wird einem plötzlich die Europäische Union wieder lieb, trotz all der ärgerlichen Zumutungen aus Brüssel. Jetzt reist man durch fremde Länder, die einem soviel und sowenig gehören wie das vielbesungene und tapfer verteidigte Vaterland oder Mutterland. Man ist Zivilist und was noch eine Steigerung ist: Man ist bloß ein friedlicher Tourist in friedlichen Ländern,  mühsam danach suchend, was denn dort anders ist, wo selbst das Geld dasselbe ist wie daheim.

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