Amor und der Richter

Sechs Stunden schon rennt der Mann die Küste entlang, Fußstapfen für Fußstapfen auf den menschenleeren Saum der Toskana gedrückt. Sechs Stunden lang sein Schrei nach Philipe. In das stur ablehnende Palaver von Tuschelwellen und Kicherkies hinein: „Philipe!” Stunden unter den schweren Händen der Julisonne werden wie Tage, drücken den Kopf runter, als wäre dem stolzen Zelter das Zaumzeug zu fest angezogen, hocken sich auf den Reisesack, der mal die eine Schulter hinabzieht, mal die andere, hängen sich an die Schuhe, die im Sand steckenbleiben, endlich ihre Ruhe haben möchten, endlich den ewigen Schlaf alles Vergänglichen antreten. Mit ein zwei Rucken reißt er sich die Schuhe von den Füßen, läuft er barfuß weiter.

„Philipe, Philipe!” Die trockenen Lippen scheuern den Ruf ab. Lassen nur noch Grummelvokale, von diesem heiseren Rest an Stimme verwandelte Laute über den Strand rollen.

Und immer den Blick aufs Wasser gelegt. Auf das Wassernichts. Ob da nicht endlich die hellen Lateinsegel zu sehen wären, an den beiden hohen Masten, leicht nach vorn geneigt, weniger, viel weniger gebeugt, als er selbst, wie er den Strand entlang rennt. Da lassen die Schlieren vorn salzigen Seewind ihn die Feluke sehen, wie sich ihr helles Tuch vor dem Wind brüstet. Doch einmal kurz die Augen zusammengekniffen und wieder geöffnet, ist sie weg. Und das immer und immer wieder. Ein Teufelsspuk. Meine Augen, was ist mit meinen Augen? Von allen bewundert. Weil sie sehen, was andere nicht sehen. Und hier nichts.

„Philipe, Philipe!”

Doch der Wind kommt vom Meer und weht seinen Ruf den Strand hinauf. Ins Geklipp und weiter hoch ins Gebüsch. Daß der Schiffer auf der Feluke, die nicht da ist, ihn niemals hören könnte. Während der Junge ihn nicht aus den Ohren verliert. Wie er den Mann nicht aus den Augen läßt. Diesen gutgekleideten Mann mit dem Seesack über der Schulter. Und mit einem Degen an der Seite. Aber jetzt schon ohne Schuhe. Und immer langsamer in seinen Bewegungen. In sicherem Abstand von Busch zu Busch sich duckend, beobachtet der halbnackte Junge den Fremden. Der keinen Blick für das Land hat, wie er sich unter der schrägen Sonne dahinschleppt, nur immer mit schiefem Kopf auf das Meer hinaus starrend, direkt hinein in das Gleißen.

Der Richter: „Ja, ja, simple Neugier und solcherart Herumtreiberei, das hat noch nie nicht zu was Rechtem geführt.”

„Philipe, Philipe!”

Als der Junge den Ruf immer schwächer vernimmt, auch sieht, wie die Schritte zögerlicher werden, wie der nach vorn geneigte Mann zusammenzubrechen droht, aber immer noch nicht den Reisesack abwirft, hält er den Augenblick für gekommen.

„Ja, ich bin Philipe. Was willst du von mir?“ Der Fremde hat nicht bemerkt, daß er über die Klippen direkt auf ihn zu gelaufen ist. Bis er plötzliche vor ihm steht. Jetzt sieht er ihn nur an wie eine Erscheinung, erstarrt, sinkt dann kraftlos in sich zusammen, daß der Degen sich in den Sand bohrt, und murmelt: „Philipe, Philipe.“

„Ja, – was willst du von mir?” Der Junge bückt sich und sieht dem Fremden ins Gesicht, um abschätzen zu können, auf was er sich da einläßt. Älter als ich, viel älter, beruhigt er sich. Weil für einen Jungen ein Mann von Ende dreißig ein alter Mann ist, also Ungefährlich. Dazu so geschwächt von seinem Herumirren. Aber diese Wahnsinnsaugen unter den schwarzen Halbkreisen der Brauen, dieses struppige Haar, und der wilde Schnauz- und Kinnbart. Noch einmal: „Ich bin Philipe – was willst du von mir?”

„Doch nicht von dir. – Nein, doch. – Von dir. Komm, hock dich zu mir.”

„Soll ich dir deinen Reisesack tragen? Für eine kleine Münze helf ich dir weiter.”

„Nein, nein, nein!” Der Fremde krallt sich mit weißen Fingerknöcheln daran fest, als müßte er den Kirchenschatz behüten.

„Her damit! Viel zu schwer für dich.”

„Nein, überhaupt nicht schwer.” Der Sack in seinen Armen wie eine Geliebte.

„Und die heiße Sonne hier.”

„Sonne? – Nein. Philipe! Wo ist Philipe?”

Entschlossen packt er den Fremden am Arm und zieht ihn hoch. Der Reisesack fällt auf den Boden. Der Mann achtet nicht darauf, lehnt sich erschöpft an den Jungen, das Gesicht an seiner nackten Brust, klammert er sich an und stammelt: „Philipe, Philipe!”

„Raus aus der Sonne! Komm in den Schatten, Mann, ins Gebüsch!”

Der Richter: „Ganz klar. Wem widernatürliche Avancen gemacht werden, der hat selbst dafiir eine Causa gesetzt. Und wenn er dann darauf eingeht, ist das schon finales Tätigwerden in Sachen Unzucht.”

Der Junge zieht den Fremden mit sich den Strand hinauf. Die Vorstellung, daß hohes, dichtes Buschwerk einem Schutz bietet, ist ja so naheliegend, daß man nicht leicht auf die gegenteilige Vorstellung kommt, daß dasselbe Buschwerk einen der Eigenart einer Zufallsbekanntschaft ausliefert. Wogegen der Junge sich ja leicht wehren kann. Als der Fremde mit tastenden Händen und trocken schmatzendem Mund sich an ihn presst, stößt er ihn rabiat zu Boden. Und die Hand, die nach dem Degen greift, tritt er mit seinem nackten Fuß weg. Mehr ist nicht nötig. Denn der am Boden Liegende verdreht die Augen, greift hilflos in die Luft und faselt vom Malen.

„Ich werde dich malen, Amor, ich mache dich unsterblich. Diese engelhaft weiße Haut und diese teuflisch schwarzen Locken, du bist Amor, du bist Himmel und Hölle in einem.” Dabei zerrt er ihm das Tuch runter, das er um die Lenden geschlungen trägt.

„He, he, du bist wohl verrückt!”

„Halt ruhig, Amor, ich muß dich so sehen. Nichts zu schämen, doch nicht vor mir. Ich bin ein Maler, ich bin der Maler, der berühmteste Maler Italiens.”

„Das kann ja jeder sagen.” Damit legt er sich das Tuch wieder sorgsam um.

„Bring mich in die Stadt. Ich brauch ein Atelier. Sofort, ganz schnell! Ich werde dich malen, Amor. Als Hüter der Sonne.”

Damit schließt der Mann die Augen, läßt die gestikulierenden Hände fallen. Und bald hört auch das unverständliche Murmeln auf. Er ist in eine tiefe Bewußtlosigkeit entschwunden. Der Junge zerrt den Seesack, auf den der Mann gefallen ist, unter ihm hervor und wühlt ihn eilig durch. Ein silbernes achtzackiges Kreuz hält er hoch in die Sonne, daß es ihn blendet. Farbtuben und Pinsel, ein paar Kleidungsstücke und zwei Leinwandrollen. Auch eine Geldbörse, doch bloß mit ein bißchen Kleingeld drin. Dafür wird sein Degen wertvoll sein, überlegt der Junge, wie er die Waffe vom Gürtel losmacht. Und wenn ich seine Kleider verkaufe, hier kennt ihn ja keiner, das bringt was ein. Vornehme Kleider.

Der Fremde hat die Augen geöffnet. Er sieht seinen ganzen Besitz in den Händen des Jungen. Was ihn aber nicht aufregt. „Komm mit mir in mein Atelier”, flüstert er kraftlos. Der Junge ist noch nicht bis auf den Grund des Seesacks vorgedrungen. Hält ihn in den Händen, unschlüssig, was tun. „Alles nichts”, hört er den Kommentar. „Ich will dich malen, Amor. Ein Bild von mir, und du bist ein reicher Mann.”

Der Richter: „Oh, Fluch der Eitelkeit und Verdammnis über unsere Gier und alles, was uns größer erscheinen läßt als wir sind. Weil wir um so kleiner werden ihnen zufolge.”

„Du bist wirklich ein Maler? – Und vielleicht ein berühmter?” Mit dem Degen in der Hand kann der Junge sich Zeit lassen, kann er seinem Gegenüber eine neugierige Aufmerksamkeit zukommen lassen, die den auf erstaunliche Weise belebt. Daß er sich aufsetzt und hastig losredet:

„Ja, ich bin Maler, ich bin der berühmteste Maler Italiens. Ich bin Michelangelo da Merisi, den alle Welt Caravaggio nennt, weil ich dort geboren bin. In Caravaggio bei Milano, weißt du. Ich komme gerade aus Napoli. Als ich hier an Land ging, wurde ich verhaftet. Ja, aber das war ein Irrtum. Verdammte Trottel. Doch man hat mich gleich wieder freigelassen. Einen Mann wie mich sperrt man nicht ein. Auch die Malteser haben mich nicht halten können, in ihrem versteinerten Paradies auf Malta. Meterdicke Wände, kalter Stein, eiskalte Herzen und volle Goldtruhen, aber ich bin ihnen entwischt. Ich bin frei, frei, frei.”

Damit verklärt sich sein Blick. Er fällt hintenüber und wieder in diesen Zustand zwischen Leben und Tod, der selbst den Abgebrühtesten hindern würde, Hand an ihn zu legen. Zum Glück sind die Augen geschlossen. Das gibt dem Jungen Sicherheit. Er legt eine Hand auf die Stirn des Fremden und zuckt zurück: Fieber. Der Mann ist krank. Schwer krank. Der macht es nicht mehr lange. Der stirbt. Aber ich will nichts mit einem Toten zu tun haben. Ich war es nicht, ich habe ihn nicht getötet. Er zerrt ein Tuch aus dem Sack, wickelt den Degen und den achtzackigen Stern und die Geldbörse hinein, klemmt sich das Bündel unter den Arm und will davonlaufen, als er beim letzten Blick auf den Sterbenden von dessen Fieberblick festgehalten wird.

Die Augen sind wieder geöffnet, und auch der Mund weit offen und wieder dieses heisere Gerede ohne jede Pause: „Ich bin Malteserritter, der Großmeisterpalast in Valletta, weißt du, der Albergo der italienischen Zunge, da bin ich zuhause. Ich habe den Großmeister Alof de Wignacourt gemalt, in voller Rüstung. In der Rüstung seines Vorgängers. Und ich habe die Enthauptung Johannes des Täufers gemalt, für unsere Konventskirche. Du kannst hingehen, kannst nachsehen. Wie das Blut aus dem Hals des Täufers auf den Zellenboden fließt, das Blut, mit dem ich signiert habe. Fecit Michelangelo habe ich mit Blut geschrieben. Da waren sie stolz auf den neuen Ritter in ihren Reihen. Die Herren Ordensritter. Und sie hätten mich zu ihrem Großmeister gemacht, mich, es gab keinen besseren, ich hatte sie doch alle auf meiner Seite, die von der italienischen Zunge. Und die meisten anderen auch. Sie hatten es mir in die Hand geschworen. Dem Großmeister ein Ultimatum stellen. Daß er zurücktritt. Wegen Unfähigkeit. Doch dann wurde mein Plan verraten, von einem Franzosen. Der Kerker im Fort Sant Angelo. Man wollte mir den Prozeß machen, wegen Hochverrat. Aber meine Freunde haben mich heimlich befreit. Wo ist Philipe? Wo seine Feluke? Ich muß weiter, ich muß weg von hier. Ich muß an Bord gehen. Der Heilige Vater macht Jagd auf mich.”

Der Richter: „Spätestens in diesem Moment mußte jedem klar werden, daß er sich in eine Angelegenheit von höherem Interesse einmischt, wozu er weder berechtigt noch befähigt ist.”

Der Mann sackt wieder in sich zusammen. Ein neuer Fieberschub läßt ihn nur noch unverständliches Zeug murmeln. Mit weit aufgerissenen Augen, die den Jungen nicht freigeben, ihn nicht weglaufen lassen mit seinem Bündel unterm Arm. Gebannt. Aber auch, weil er hofft, der Mann kommt wieder auf die Beine. Der wird wieder gesund. Und er malt mich. Wie hat er mich genannt? Amor, Amor hat er gesagt.

Der Richter: „Oh vanitas vanitatis!”

Der Junge nimmt einen Lappen aus dem Reisesack und läuft damit zum Wasser hinunter, macht ihn naß und eilt zu dem Gebüsch zurück, legt ihn tropfnaß dem Kranken auf die Stirn. Daß der Mann mit einem Schrei hochschreckt: „Nicht sterben, nein, nicht sterben!”

„Mann, du wirst nicht gleich sterben von dem bißchen Fieber. Zu lange durch die Sonne gelaufen. Das ist alles.”

„Ha”, bricht der Kranke in ein schaurig schepperndes Lachen aus. „Bißchen Fieber, sagst du. Mir ist kalt, Junge, schrecklich kalt. Leg mir was um.” Und der Junge gehorcht, als hätte er sich nie was anderes gewünscht als Kranke zu pflegen. „Das ist die Endphase”, röchelt der Mann, „das Sumpffieber, es hat mich wieder eingeholt. Und jetzt kommt das Ende.” Und läßt seinen Pfleger gar nicht zu Wort kommen, seinen Protest nicht anbringen. „Ich weiß es, ich sterbe, ich sterbe. Dabei wollte ich dich malen, Amor.”

Und der Junge sieht doppelt Grund, Abstand zu nehmen von dem Mann, der sich da vor ihm auf der Erde krümmt. Kein Gemälde, dann aber auch nicht die Krankheit. So tritt er hinter das Gesträuch, als könnte es ihm Schutz geben.

Der Richter: „Ein Excess des Ichbedürfnisses, das ihn zu dem kranken Flüchtling hinzog. Und dagegen die Angst vor Ansteckung, die aber nicht stark genug war, ihn die einzig richtige Konsequenz ziehen zu lassen, nämlich den Vertreter des Gesetzes herbeizuholen. Das ist die Crux der kleinen Leute, daß sie mehr Gefühl als Rechtsempfinden haben.”

„Komm näher, Dummkopf, keine Angst, ich hab dir was zu sagen!” Ein angestrengtes Flüstern über die Distanz von drei vier Armlängen. „Ich schenk dir alles, was ich habe, junger Freund, wenn du mir einen Freundschaftsdienst tust.” Und wartet nicht ab, ob der andere dem zustimmt, sondern hetzt seine röchelnde Stimme weiter ohne jede Rücksicht, in der Art, wie es Sterbende tun, die nichts mehr zu verlieren haben als den Faden ihres allerletzten Gedankens: „Ich hab keine Angst vor dem Tod, so viele Tode habe ich gemalt. Aber schrecklich die Angst, lebendig begraben zu werden. Weiß ich denn, ob ich wirklich richtig tot bin, wenn die Leute mich hier finden und sagen: Der ist tot.”

„Tot ist tot.”

„Nein, nein, mein Freund, da gibt es viel zuviel an Irrtum. Und im Sarg liegen unter der schweren Erde und das Fieber geht mal wieder zurück und ich schlage die Augen auf und es ist nur Dunkelheit um mich herum und ich kann rufen solange ich will oder die Luft im Sarg mir reicht und kein Mensch hört mich und rettet mich und alles ist …”

„Hör auf, Mann, mit dem Gefasel!”

„Hast du nie davon gehört, Amor, daß Tote noch im Sarg leben und erst in ihrem eigenen Grab sterben? Hast du nicht von der jungen Frau gehört, kurz vor der Geburt ihres Kindes gestorben und begraben? Später, als sie das Grab geöffnet haben, haben sie das winzige Gerippe des Kindes gesehen, zwischen ihren Beinen, das Kind, das sie noch im Grab geboren hat. Sie war bloß scheintot. Das gibt es. Und öfter als du glaubst. Aber nicht bei mir.” Der Kranke stützt sich noch einmal ein wenig auf. Und röchelt immer schwächer und mühsamer: „Ich will sicher sein, daß ich tot bin, wenn ich gestorben bin. Gleich, wenn ich meinen letzten Atemzug getan habe und mit großen Augen ins Himmelreich starre. Gleich, mein Freund. Dann sollst du meinen Degen nehmen und ihn mir durchs Herz stoßen. Hier, genau hier mußt du hineinstechen. Versprichst du mir das?”

Der Richter: „Wer ist man denn als kleines Bürschchen, daß man glaubt, selbst dem Tod ein Schnippchen schlagen zu dürfen? Oh, du unheilige Selbstüberschätzung!”

Der Kranke reißt seine Rüschenbluse über dem Herzen auf und gräbt sich mit den Fingernägeln ein blutiges Kreuz in die Haut. „Versprochen?” Und als der Junge nickt: „Du bist der einzig wahre Freund. Deshalb gehört alles, was ich habe, dir, Philipe. Auch die beiden Bildrollen da – ” Und läßt plötzlich den Mund reglos offenstehen. Wie nicht mehr gebraucht. Genauso die Augen. Bleibt liegen, wie er gelegen hat, die Arme und Beine wie nicht zu ihm gehörend neben sich.

Da nimmt der Junge den Degen aus dem Bündel, packt ihn fest mit der Rechten, schwingt ihn einmal durch die Luft, daß es sirrt, und stößt ihn dann dem Toten durch die Brust, exakt da, wo das blutige Kreuz ihn erwartet hat. Und zieht ihn raus und rafft hastig die Sachen zusammen, die jetzt ihm gehören, und rennt nachhause.

Wo ihn am nächsten Tag die Gerichtsbüttel abholen, die ihn ins Gefängnis werfen. Für den Rest seines Lebens der Liebling der Wärter, die sich an ihm befriedigen. An Amor mit dieser engelhaft weißen Haut und den teuflisch schwarzen Locken, Himmel und Hölle in einem.

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